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Jeder Journalist und Blattmacher weiß: Umläufe sind nicht gut. Fortsetzungen auf der zweiten Seite verleiten den Leser zum Aussteigen. Überfrachtete Webseiten sind aber auch nicht gut. Deshalb stehen die Fortsetzungen meiner längeren Essays auf der Arktikelseite hier.
Fortsetzung:
Der Schamane
...
"Weil wir moderne Menschen geworden sind“, sagt Angaangaq, „materiell orientiert und auf der Jagd nach immer mehr.“ Die Menschen schätzten sich selbst nicht mehr. Sie glaubten, sie seien hochentwickelt und zivilisiert. „Doch auf meinen Reisen quer durch die Welt habe ich das Gegenteil festgestellt – einen blanken Egoismus, das unermüdliche Trachten nach dem eigenen Vorteil. Wir sind unvorstellbar gierig geworden.“ Was das mit Zivilisation zu tun habe? Große Unternehmen seien nicht mehr bereit, Verantwortung zu übernehmen, sagt er. „Apple will, dass wir seine intelligenten Maschinen kaufen, und versucht gleichzeitig, für die Milliarden, die es dadurch verdient, möglichst keine Steuern zu zahlen.“ So finanzierten die Verbraucher Apple gleich zweimal: Sie zahlten erst einen hohen Preis für die Produkte und verzichteten dann, durch die Steuervermeidungsstrategie des Unternehmens, auch noch auf Einnahmen in Milliardenhöhe. Viele große Unternehmen verhielten sich ähnlich. „Wir alle wissen, dass wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher“, sagt der Schamane.
Die Botschaft ist nicht neu. Doch sie klingt anders aus dem Mund des alten Eskimos. Authentischer. In der alten Tradition der Eskimos gab es keine Gier. Die widrigen Lebensumstände verpflichteten die Menschen zum Teilen, zum Geben und Nehmen. Es gab keine Kämpfe um Grenzen und Eigentum. Niemandem gehörte das Land und doch allen gemeinsam. Eigentum war kein Wert an sich, Eigentumsrechte spielten keine Rolle. „Wir lebtenalle zusammen“, erinnert sich Angaangaq. Wer sich ein Haus oder Iglu gebaut habe, der wohnte darin, und niemand kam auf die Idee, das anzufechten. „Egoisten hatten in unserer traditionellen Gesellschaft keine Chance.“ Aber inzwischen sei es vielerorts auch in Grönland so wie im Rest der Welt: „Heute kann man ohne eigenes Geld nicht überleben.“ Und wer einmal Geld zum Überleben braucht, der will mehr davon.
Solche Dinge sagt der Schamane vielen Menschen – Bankern, Unternehmern, religiösen Oberhäuptern, Politikern. Er ruft es ihnen auf unzähligen Veranstaltungen entgegen, die er oft mit einer traditionellen Zeremonie der Kalaallit beginnt. Seine Zuhörer verfolgen sie andächtig. Seine Botschaften klingen schon deshalb glaubwürdig, weil die Erderwärmung den Grönländern die Lebensgrundlage tatsächlich entzieht. Gigantische Löcher haben die steigenden Temperaturen inzwischen in die einst kilometerdicken Gletscher gefressen, hässliche Fratzen in die brüchigen Eiswände gezeichnet. „Es gibt nur eine Erde. Jeder Baum, der im Amazonas-Becken oder im Kongo gefällt wird, erschwert es den Eskimos, ihre Iglus zu bauen, weil der Schnee zu nass wird“, sagt der Schamane. Das Amazonas-Becken liege 17000 Kilometer von Grönland entfernt. Dennoch: „Auch das Abholzen dieser Wälder lässt das Eis weichen.“
Es der Mensch, der Lebensstil der westlichen Moderne, der das Eis in Wasser verwandelt, in Ströme, die alles mit sich reißen. Es ist die Gier.
Das Volk der Kalaallit-Eskimos pflegte einst eine Prophezeiung: Wenn das steinharte „Große Eis“ so weich wird, dass man mit seiner Hand keinen Abdruck mehr in ihm hinterlassen kann, bedeutet das, dass die Natur in Aufruhr ist. „Meine Mutter hätte niemals gedacht, dass sich diese Prophezeiung zu ihren Lebzeiten erfüllen würde“, erinnert sich Angaangaq. 1963 kamen zwei Kalaallit-Jäger aus den Bergen in ihr Dorf und erzählten von einem Rinnsal, das von der mächtigen Eiskappe herunterrann. Die Bewohner horchten auf. Sie erschraken. Angaangaq war damals 16 Jahre alt.
„Als ich von den Ältesten ausgewählt wurde, ein ‚Läufer‘ zu werden, habe ich mir selbst viele Fragen gestellt: Was habe ich zu sagen? Wem soll ich es sagen? Und wie?“ Angaangaq wusste um die Jahrhunderte alten, stets mündlich überlieferten Lehren und Weisheiten der Eskimos. Wie oft hatte er sie von seiner Großmutter und seiner Mutter gehört. Die beiden Frauen hatten ihn jahrelang auf seine Aufgabe vorbereitet. Aber er hatte keine Anweisungen der Ältesten, wie er sie einsetzen und an wen er sie richten sollte. Das musste er selbst herausfinden. Es gibt in den traditionellen Eskimo-Familien wenig konkrete Ratschläge. Es gibt nur die Verantwortung.
Viele Jahre lang war Angaangaq Delegierter bei den Vereinten Nationen. Er wurde dafür bezahlt, ist erster Klasse geflogen und hat in Fünf-Sterne-Hotels gewohnt. War es ihm wichtig? „Nein. Ich wollte das nicht. Wichtig war mir, dass mir die Menschen zuhören, wenn ich zum Beispiel über den Klimawandel sprach oder ihnen von unseren alten Lehren und Weisheiten erzählte.“
Wie oft habe er erlebt, dass sie sich nach seinen Ansprachen erhoben und ihm stehend applaudierten. Begeistert und inspiriert. „Aber sie haben nur applaudiert“, sagt er. „Geändert haben sie ihr Verhalten nicht.“ Die Gier der modernen Welt, die den Menschen atemberaubenden Fortschritt und Wohlstand aber auch eine nie dagewesene Verschwendungssucht und die Umweltzerstörung gebracht hat, bekamen die Eskimos als erstes zu spüren. Angaangaq ist kein Wirtschaftsfeind – im Gegenteil. „Aber eine geistlose Volkswirtschaft wird in sich zusammenbrechen.“
Von dort, wo der Schamane herkommt, hat sich das Eis schon weit ins Landesinnere zurückgezogen. Aufzuhalten sei diese gefährliche Entwicklung nicht mehr. „Das Eis wird verschwinden, das Wasser immer gewinnen“, erklärt Angaangaq. Mehr sagt er nicht. Auch er könnte mit Zahlen operieren, mit Celsiusgraden der Erderwärmung und steigenden Meeresspiegeln. Aber das tut er kaum. Wer wollte das denn noch hören?
Müde kehrte er einmal von all seinen Reisen als Delegierter der Vereinten Nationen zurück zur Familie nach Grönland. Er wollte nicht mehr auftreten, weil er merkte, dass ihm die Menschen zwar applaudierten, aber sich nicht änderten. Er bat seine Mutter um Rat. „Du weißt, dass Du andere Wege beschreiten wirst“, sagte sie ihm, mit geschlossenen Augen, während sie ihm gegenüberstand und seine Hände hielt. „Du wirst ausziehen, um das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen. Nur dann hat der Mensch die Chance, sich zu ändern und sein Wissen weise anzuwenden.“
„Gelingt mir das?“, fragt sich Angaangaq heute. Er wisse nur, dass viele von seinen Reden berührt sind und ihn weiter einladen, um seine Worte zu hören. Ob sich die Welt dadurch ändert? Ob die Menschen zur Besinnung kommen?
Der Schamane ist immer noch unentwegt auf Reisen, trotz der Enttäuschungen, und er füllt bis heute die Vortragssäle. Die Empfänger der Weisheiten seiner Vorfahren – wider die fortdauernde Entfremdung des Menschen von der Natur und sich selbst – könnten bekannter nicht sein. Angaangaq begegnete unter anderem dem Dalai Lama und Nelson Mandela. „Mandela wollte die Führer der Eskimos treffen. Warum er mich aussuchte, weiß ich nicht.“ Es sei eine bewegende Begegnung gewesen, erinnert er sich. Für beide Seiten. Anderthalb Stunden hätten Mandela und er alleine zusammen gesessen, Arm in Arm. Dann habe der Afrikaner angefangen, mit den Händen auf die Trommel des Schamanen einzuhämmern und das Lied seiner Großmutter zu singen. „Vielleicht war Nelson Mandela einer von denen, die ich erreicht habe“, sagt Angaangaq und wiegt den Kopf.
Was hat es auf sich mit der Gier? Warum können viele Menschen sich nie zufrieden geben? „Ich habe keine Ahnung“, sagt der Schamane. Er lacht. Unwillkürlich beginnt man, mitzulachen. Angaangaq ist kein trübsinniger Kulturpessimist, sondern einer, der daran glaubt, dass sich Menschen ändern und ihr Wissen umsichtig und damit nicht nur zum eigenen Vorteil einsetzen können – auch wenn das Schmelzen der Eiskappe auf Grönland von niemandem mehr aufgehalten werden kann. „Wir müssen zu unseren Zeremonien zurückkehren und das Leben feiern. Wir müssen zu uns selbst zurückfinden“, sagt er.
Die ersten zwölf Jahre seines Lebens ist Angaangaq bei seiner Großmutter aufgewachsen, in einer kleinen Siedlung namens Karrat. Damals war das Leben der Eskimos in Ordnung, die Moderne hatte sie noch nicht erreicht. Sein Vater war immerzu auf Jagd, die Mutter half ihm dabei. Die Großmütter zogen die Kinder auf. Wer aus westlicher Perspektive sagt, er sei in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, dem hält er den Wohlstand der Großmutter entgegen. Natürlich gab es in den wenigen Häusern seiner Siedlung Ende der vierziger und in den fünfziger Jahren keinen Strom. Es gab auch kein fließendes Wasser, keine Heizung, keinen Kiosk, an dem man sich etwas hätte kaufen können. Es gab kein Geld. Aber es gab die Großmutter, die eine Heilerin war und für ihre Dienste an den Nächsten reich beschenkt wurde. Mangel, sagt Angaangaq, habe er nicht gekannt.
Auf das Thema Gier kommt der Eskimo im Gespräch immer wieder zurück. Darauf, dass sie keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas Erlerntes sei. In seiner Familie habe es die Gier schon deshalb nicht gegeben, weil durch die widrigen Lebensumstände jeder auf den anderen angewiesen war. „Meine Familie war reich“, sagt er. „Wir hatten Essen und Kleidung für viele Menschen. Aber wir hatten kein Geld. Er legt den Kopf ein wenig schief und lächelt wieder. Was seien denn schon Dinge? Mitnehmen könne man sie eh nicht. Seine Großmutter habe immer gesagt, wenn ihr das Glück hold sei, dann werde sie mit nicht mehr als einem Satz Kleidung am Leibe sterben. „Tatsächlich trug sie bei ihrem Tod nur eine Lage.“
Das ist die Botschaft des Ältesten der Eskimos, eines der wichtigsten Repräsentanten indigener Völker auf der Erde. Sein letzter Satz. Dann folgt ein Gesang mit geschlossenen Augen, es ist der Gesang für seine Mutter. Mehr als bloß ein Lied. Es ist ein Gebet.
Der Fremde
Fortsetzung:
Die globale Vertrautheit entpuppt sich als Illusion. Das Fremde überkommt die Gesellschaft schneller und massiver, als vielen lieb ist. Es überrascht im eigenen Land, nicht in der Ferne. Inzwischen wird immer offensichtlicher, dass sich Deutschland mit der Aufnahme der vielen Flüchtlinge auf eine Begegnung mit ungewissem Ausgang eingelassen hat.
"Das Fremde affiziert uns, bevor wir zustimmend oder ablehnend darauf zugehen", sagt der Philosoph Bernhard Waldenfels. Die Überraschung ist ein Wesensmerkmal des Fremden. Doch die Menschen hatten fast vergessen, welche Urgewalt dem Fremden innewohnen kann.
Alles beginnt mit einem Fußabdruck. Größer als der eigene und daher bedrohlich liegt er im Sand und weckt die Vorstellungskräfte des Betrachters - und er weckt die Angst. Robinson Crusoe konnte nicht wissen, ob sich hinter seiner Entdeckung Schrecken oder Glück verbarg. Es dauerte noch Jahre, bis er Klarheit darüber bekam. 1719 hat Daniel Defoe seinen Roman veröffentlicht. Er treibt das Thema der Begegnung mit dem Fremden auf die Spitze.
Später dann haben wir das Fremde uns anverwandelt. "Über die vergangenen Jahrhunderte wurde das Fremde im europäischen Denken an den Rand gedrängt und zum Durchgangsstadium degradiert", sagt Waldenfels. "Solange der Mensch noch nicht ganz begriffen hat, wer er ist, wer die anderen sind und wer die Welt ist, befindet er sich im Zustand der Entfremdung."
Wie wirkungsstark dieses Denken bis heute ist, kann man am Alltagsverständnis des Fremden festmachen. Fremd ist das, was man noch nicht kennt. Die Implikation ist nicht minder mächtig: Man kann sich das Fremde zu eigen machen und überwinden - so der Glaube. Das Fremde soll verschwinden.
In Vergessenheit geriet die Ambivalenz der Fremdheitserfahrung. Derzeit macht sie uns zu schaffen.
Das Fremde bringt Erstaunen und Erschrecken, das Faszinierende und das Unheimliche. Man weiß nicht, ob der Fremde, der da kommt, ein Guter oder ein Böser ist. Noch weniger ist klar, ob es gelingt, die Begegnung zum Guten zu wenden. Die Enttäuschung ist schon deswegen notgedrungen immer Teil der Fremdheitserfahrung. "Ein schwarzes Staunen über das Fremde" nennt es Waldenfels, wenn sich Deutschland über die Silvesternacht den Kopf zerbricht.
Die Ambivalenz in der Begegnung mit dem Fremden ist der Grund, warum der Mensch spontan eine Abwehr entwickelt. Doch noch mehr kommt dazu. "Wenn das Fremde aus dem Gewöhnlichen herausführt, hat es einen versteckten Imperativ: Wenn es so ist, musst du anders denken und anders leben", sagt der Philosoph. Das ist nichts anderes als ein tiefer Einschnitt im alltäglichen Lauf der Dinge, der unangenehm oder zumindest unbequem sein kann.
Viel zu voreilig und einseitig hat die Bundeskanzlerin ihren Satz "Wir schaffen das" ausgesprochen, viel zu schnell hat die Wirtschaft frohlockt, ist Deutschland doch erst dabei, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie lebt man mit dem Fremden? "Die Antwort darauf wird Deutschland selbst verändern", ist Waldenfels' Prognose. Denn die Begegnung mit dem Fremden ist eben immer auch eine Begegnung mit sich selbst. Will man die Unwägbarkeit des Fremden überhaupt ertragen? Und: Zu wem wird man dann?
"Die Angst vor dem Fremden", sagt der Baseler Psychoanalytiker Joachim Küchenhoff, "beginnt früh in der Kindheit." Sie hängt mit der wachsenden Fähigkeit zusammen, zwischen sich und anderen zu unterscheiden. Angst empfinden die Menschen auch vor etwas, das sie bei sich selbst nicht dulden wollen und deshalb anderen zuschreiben. Schon das kleine Kind verlagert alles, das in ihm tobt, nach außen und ordnet es Fremden zu. Gut soll das Selbst sein, böse ist das Andere. Ausgangspunkt des Fremden ist stets das Selbst. Schon im Kindesalter ist das Fremde eine Konstruktion, die vom Selbst bestimmt wird. Wer etwas fremd nennt, hat immer schon die Beziehung zum Eigenen mitbedacht.
Männer in Deutschland empörten sich über Fremde, als ob sie mit den Vorfällen in Köln überhaupt nichts zu tun hätten und sexuelle Belästigungen nicht kennten, sagt Küchenhoff: "Das Gegenteil ist der Fall." Ohne die Vorfälle zu entschärfen und kulturelle Unterschiede im Verständnis der Geschlechterrollen kleinzureden, ist hier sicher auch ein gehöriger Anteil Projektion dabei. Wer will schon wahrhaben, was in ihm selbst wütet?
Der Umgang mit den Übergriffen in der Silvesternacht zeigt die klassischen Symptome der Angst vor dem Fremden. Die Kölner Domplatte ist der Ausgangspunkt für eine "moral panic" geworden, die die Sicht auf das Fremde bedenklich stark vereinfacht. "Es entsteht ein homogenisiertes und stereotypes Bild des Fremden, der ins Land kommt", meint der Berliner Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer. Der Fremde wird zum Feindbild: der hochgefährliche junge Muslim mit einem anerzogenen Gesellschaftsverständnis, das westlichen Frauen keinen eigenen Wert zuschreibt. Ein wirkmächtiges Bild hat die Silvesternacht für eine Diskussion geliefert, die in Deutschland in Reaktion auf die Verunsicherung durch die geballte Fremdheitserfahrung schon länger läuft. "Inzwischen wird sogar vollkommen außer Acht gelassen, dass es sich primär nicht um muslimische, sondern um männliche Gewalt handelt", sagt Schiffauer.
Das der moralischen Entrüstung eigene Ablaufschema ist deutlich zu erkennen. Zunächst wird verallgemeinert - Köln ist überall. Dann werden die Fremden homogenisiert und schließlich die Politiker zu schnellen Maßnahmen gedrängt. Die Welt, die durch das Fremde so komplex geworden ist, wird wieder schwarz und weiß, die Ambivalenz des Fremden ausgeschlossen. Das archaisch männliche Denkschema funktioniert auch hierzulande: "Wir müssen unsere Frauen schützen." Das ist die Dämonisierung des Fremden.
Vorher gab es die Idealisierung des Fremden. Zu Beginn der Flüchtlingswelle war die Sichtweise positiv, doch ähnlich schlicht. Heute sehen wir die Fremden nur als Täter, vorher sahen wir sie nur als Opfer. Die Beifall klatschende Menge am Münchener Hauptbahnhof ist der Gegenentwurf zur Kölner Domplatte. Diesmal kannte Idealisierung keine Grenzen - das Fremde war die Projektionsfläche für das ureigene Bedürfnis, als hilfsbereiter Bürger vor sich selbst gut da zu stehen. Man kann das Fremde dämonisieren oder idealisieren. Beides wird ihm kaum gerecht. Und doch fordert es einen geradezu heraus, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, weil das Ungewisse unerträglich ist und Ambivalenzen schwer auszuhalten sind.
Was also kommt da wirklich auf uns zu? "Die Millionen Flüchtlinge, die inzwischen in Deutschland sind, stellen keinesfalls eine homogene Gruppe", gibt Kulturwissenschaftler Schiffauer zu bedenken. Die Menschen unterschieden sich in Schichtenzugehörigkeit, Ausbildungsstand, Religion und Ethnie. Die einen kämen aus großen Städten, die anderen vom Land. Die Beziehungen untereinander sind komplex. "Ein einheitliches Bild der Fremden ergibt das nicht." Deswegen tue man gut daran, sich gerade nicht auf diese Welle der "moralischen Panikmache" einzulassen. Schiffauer wird deutlich: "So können wir mit dem Fremden nicht umgehen."
Wie dann? Mit Staunen und Erschrecken. Da tut sich Deutschland schwer. "Erst einmal gilt es, das Fremde nicht sofort als etwas Negatives oder gar als Defizit zu fassen, sondern als etwas, das zum Leben, zur Vernunft, zum Denken, zur Sprache und zum Selbst hinzugehört", sagt Philosoph Waldenfels. Leicht fällt das den Menschen hierzulande nicht.
Dabei hat die Begegnung mit dem Fremden schon viel verändert. Die Deutschen definieren sich gerade neu und erleben sich derzeit als eine im europäischen Vergleich eher gastfreundliche Nation. Ganz anders als in ihrer Geschichte und anders als vorher in der Finanz- und Staatsschuldenkrise, in der sich Deutschland als Zuchtmeister Europas gab. "Diese Neudefinition prägt. Hier richtet die Begegnung mit dem Fremden die eigene Identität neu aus", sagt Psychiater Küchenhoff. Deshalb warnt er davor, sich im Falle von Enttäuschungen selbst zu kritisieren und abzuschotten.
Der Umgang mit dem Fremden ist eben ein oszillierender Prozess des Versuchs und Irrtums, des Annäherns, des Rückzugs und eines erneuten Annäherns. Weltfremd ist, wer anderes erwartet. "Vielleicht merkt man, dass man bei zu großer Offenheit Werte vernachlässigt, die einem wichtig sind", sagt Küchenhoff. Die Enttäuschung rechtfertigt aber noch nicht den definitiven Rückzug und die Notwendigkeit, sich von der Neudefinition als gastfreundliches Land wieder zu verabschieden. Küchenhoff rät: "Es brauchte vielmehr eine dynamische Auseinandersetzung mit dem Fremden, die nicht in festen Haltungen verhaftet ist, aus denen womöglich noch politische Maximen werden." Ob das möglich ist?
Migration, die nun einmal Fremdes mit sich bringt, hat langfristig noch keinem Land geschadet. Im Gegenteil. Das ist durch vielfache Studien belegt. Doch selbst Ökonomen sagen inzwischen auch, es komme auf die Haltung in der Begegnung mit den Fremden an. Vielleicht ist es an der Zeit, den produktiven Aspekt des Fremden über den bedrohlichen zu stellen, die Stimulanz, die in der Begegnung liegt, als solche auch zu sehen. "Wenn es gutgeht, entsteht etwas positiv Neues", meint Waldenfels. Hätte man das den Frauen auf der Domplatte in der Silvesternacht gesagt, wäre es der blanke Zynismus. Aber die Gesellschaft als Ganze muss es sich anhören.
Robinson Crusoe geht gut aus. Der schiffbrüchige Brite gibt dem Fremden einen Namen und macht ihn sich vertraut. Am Ende ist Freitag sein treuster Freund. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 17. Januar 2016
Narzissmus
Fortsetzung:
Der bekannte Münchener Sozialpsychologe und Managementforscher Dieter Frey schätzt, dass jede zweite Führungskraft – ungeachtet ihrer fachlichen Kompetenz – eine Fehlbesetzung ist, weil sie entweder opportunistisch oder gar narzisstisch veranlagt ist. „Narzissmus kann man als übertriebene Selbstbewunderung oder Selbstverliebtheit definieren“, sagt er, also die Konzentration des seelischen Interesses auf das Selbst. „Bloße Wertschätzung reicht Narzissten nicht aus, sie wollen bewundert werden.“ Und: „Narzissten können hoch manipulativ sein.“ Es mangelt ihnen zudem an Empathie.
Das Verhalten von Narzissten hat Folgen, die auch in der Unternehmensentwicklung ihren Niederschlag finden können. Denn Narzissten wollten ungern die Wahrheit hören, sagt Frey. „Wenn man dem Narzissten nicht mehr die Wahrheit sagen darf, er also nicht mehr offen Feedback von außen ist, dann steht dies guter Führung entgegen.“ Denn kritische Selbstreflexion und die Annahme von Feedback seien gerade dafür unabdingbare Voraussetzungen. Narzissten zeichneten sich hingegen durch erhöhte Empfindlichkeit aus. „Kritisch wird es, sobald der Narzisst – aus Angst, selbst nicht mehr im Scheinwerferlicht zu stehen – gute Leute gezielt klein hält.“
Es ist nicht ganz einfach mit dem Narzissmus. Denn nicht alles ist falsch an ihm. Ein gesunder Narzissmus ist wichtig, der positive Normallfall sozusagen einer in sich ruhenden Persönlichkeit; ein leicht übersteigerter Narzissmus kann immerhin noch Gutes bewirken, weil er seinem Protagonisten eine überdurchschnittliche Erfolgsorientierung und dafür wieder einen besonders langen Atem beschert. Das kann Unternehmen zu gute kommen. Aber ist gibt auch noch die andere Seite, die pathologische, dann, wenn die Eigenliebe krankhafte Züge annimmt. Für Organisationen ist der letzte Typus auf Dauer von Nachteil. Der berühmte amerikanische Psychoanalytiker Otto Kernberg wies vor ein paar Jahren darauf hin, dass die Charakterpathologien von Führungspersonen, die für Institutionen die größte Gefahr bürgen, vermutlich die narzisstischen Persönlichkeitsmerkmale seien.
Die Grenzziehung zwischen gesunder und krankhafter Eigenliebe ist schwierig – auch, weil sich die gesunde in eine krankhafte verwandeln kann. Der Narzissmus nährt sich durch Steigerungserfahrungen. „Sehr häufig wird der Grundstein einer narzisstischen Störung bereits in der Kindheit gelegt“, sagt Sozialpsychologe Frey. Hinter der Eigenliebe verbirgt sich meistens ein brüchiges Selbstwertgefühl, initiiert entweder durch überbordende Zuwendungen seitens der Eltern oder durch das Gegenteil, der Vernachlässigung. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass Narzissmus erblich ist. Beim Flieger entpuppt sich eine Kindheitserfahrung als Nährboden fürs Pathologische, einer „traumatischen Trennung von der Mutter, die ich nie überwunden habe.“
Von einer narzisstischen Störung spricht die Wissenschaft, wenn mindestens fünf der insgesamt neun Kriterien des Klassifikationssystems DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) erfüllt sind. Dazu gehören das grandiose Gefühl der eigenen Wichtigkeit ebenso wie übertriebene Erfolgsfantasien, der Glaube an die persönliche Einzigartigkeit oder auch ein ausbeuterisches Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie Neid und Arroganz.
„Ich müsste einfach jemanden haben, der meine Ideen laufend festhält. Ich will mich ja gar nicht mit Goethe vergleichen, der dieses Problem für sich gelöst hatte. Sie wissen ja wohl, welche Rolle Eckermann bei ihm gespielt hat“, sagt der Flieger seinem Analytiker. Der Vergleich mit Goethe deutet den Größenwahn an. Nun fliegt er aber gerade nicht, während er das sagt, sondern liegt auf dem Sofa und braucht professionelle Hilfe. Warum eigentlich?
Narzissmus ist in seiner pathologischen Übersteigerung eine Belastung. Beziehungen misslingen, Menschen wenden sich ab. Kränkungen werden als unerträglich empfunden – von beiden Seiten. Irgendwann kommt es zu Symptomen, die ein Narzisst selbst nicht mehr ertragen kann. Hinter dem pathologischen Narzissmus verbergen sich eben Leidensgeschichten. Nicht nur auf der Seite des Narzissten selbst. Das Gegenüber leidet lange, wenn sich der Narzisst ganz unerwartet abwendet und es nie zu einem klärenden Gespräch kommt. In Unternehmen sind narzisstische Führungskräfte für Mitarbeiter vielfach unerträglich.
Wann es zu viel des Narzissmus wird, erkennt man – tragischerweise – oft erst ex post und dann meist auch nur im Fall des Scheiterns. Der Manager Wendelin Wiedeking, der in einem atemberaubenden Manöver versuchte, mit der Übernahme von VW durch den von ihm geleiteten Automobilhersteller Porsche noch mehr Macht und Einfluss auf sich zu vereinen, musste scheitern. Seinem Größenwahn konnte nur das Misslingen Grenzen setzen. Daimler-Chef Schrempp überhobt sich an Chrysler, Marie Elisabeth Schaeffler an der Übernahme von Continental. Hoeneß verspekulierte sich. „Der FC Bayern bin ich doch selbst“, diesen Satz hat der Fußballmanager, FCBayern-Präsident und Wurst-Fabrikant vielleicht nie gesagt, aber seinem Gebaren nach kann man sich gut vorstellen, dass er ihn oft genug gedacht haben mag. Die fatalen Folgen seiner übersteigerten Eigenliebe zeigten sich im Moment des Scheiterns noch in der Geisteshaltung: Wer so viel Erfolg generiert und so viel Gutes tut, soll Fehler machen dürfen. Yahoo-Chefin Marissa Mayer, die mit ihrem legendären Geltungsdrang nicht nur die Internetgemeinde faszinierte, ist nahezu entzaubert.
Reichlich selbstverliebt treten auch Politiker auf. Mehr noch: für ihr „Geschäft“ ist eine gewisse Eigenliebe unabdingbar. Die Selbstinszenierungen der amtierenden Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf jedem ihrer Ministerposten zeugen davon. Ihr Vorgänger im Verteidigungsministerium Karl Theoder zu Guttenberg ist als Paradebeispiel des politischen Narzissten nahezu unübertroffen. Am Ende hat ihm sein Narzissmus die politische Karriere zerstört. Darüber hinaus hat er ein schlecht bestelltes Haus hinterlassen. Alles Blendung. Hatte er überhaupt etwas geleistet?
Narzissmus hat etwas Rauschhaftes. Wer erfahren hat, wie es ist, im Rampenlicht zu stehen und sich der angenehmen Seiten des Bewundertwerdens gewahr wird, den treibt die Sehnsucht nach mehr. Mit diesem Mechanismus bildet sich die Störung geradezu heraus – als Ich-Sucht mit ähnlichen Strukturen wie bei andere Süchten. Der Heroinabhängige braucht seinen Stoff, der Narzisst die Bewunderung. Guttenberg strahlend in der Krise auf dem Timesquare in New York – Narzissmus trägt Züge des Rauscherlebnisses ohne Drogen, das eben durch den permanenten Applaus befeuert wird. Der Applaus sorgt für die Dopamin-Dusche im Gehirn, den Kick. Die Abhängigkeit davon fordert ihren Tribut. Sie lässt sich nur mit immer weiteren Steigerungen von Leistung und Applaus ertragen. Darin liegt der Suchtmechanismus des Narzissmus. Das Schwungrad muss sich also immer stärker drehen.
Im Erfolgsfall verzeiht sich überbordender Narzissmus leichter; dann, wenn die Eigenliebe zu überdurchschnittlicher Leistung führt, von der auch andere profitieren. Wer würde Steve Jobs seine Selbstverliebtheit übel nehmen, obwohl er – kolportiertermaßen – ein fürchterlicher Chef gewesen sein muss? Dass er vor seinem Ableben den Journalisten Walter Isaacson zu seinem Biografen damit zum Werkzeug machte, um sich die Deutungshoheit über sein Leben posthum zu erhalten, passt in das Charakterbild des Narzissten. Könnte man den Satz des Fliegers nicht auch Steve Jobs in den Mund legen: „Apple bin ich doch selbst.“ Neuer Sonnenkönig ist derzeit Elon Musk, Gründer von Tesla und SpaceX? Die Frage eines Journalisten, was er Leuten antwortete, die ihn für einen Megalomanen, also einen Größenwahnsinnigen hielten, beschied er knapp: „Ich sollte eigentlich ein Gigalomane sein. Mit Mega kommt man heutzutage nicht sehr weit!“ Ein dekuvrierender Spaß, den er da trieb. Er will die Welt verändern und hat gar kein Problem, das auch noch in aller Öffentlichkeit zu sagen. L’ etat c’est moi – der Staat bin ich.
In Gruppen oder Unternehmen ist bei narzisstischen Menschen am Anfang vieles auf Erfolg gestellt. Ihr Geltungsdrang wird ihnen als Charisma ausgelegt. Die Sehnsucht des Gros der Mitarbeiter nach Leadership ist meist so groß, dass eine Gruppe, eine Abteilung oder gar ein ganzer Konzern schnell in den Bann derer geraten, die ganz nach oben wollen. Mehr noch: Narzisstische Persönlichkeiten sorgen für Machterhalt und dienen damit zunächst der Stabilität. Sie sind fachlich stark und darin selbstbewusst: „In Sachfragen finde ich immer eine Lösung und weiß auch, wie es weitergeht“, konstatiert der Flieger. „Nur bei Menschen mache ich Schluss und lasse sie fallen.“
Auf lange Sicht sieht es dann anders aus. Für Unternehmen bedeuten Narzissten dauerhaft ein enormes Risiko. Suzanna Peterson, Professorin an der Arizona State University, hat vor gar nicht langer Zeit in einer größeren Studie den Zusammenhang zwischen Führungspersönlichkeiten und der Erfolgsentwicklung anhand einer Vielzahl von Unternehmen untersucht. Ihre Ergebnisse sind ziemlich eindeutig: Selbstverliebte Chefs bringen die Unternehmen auf Dauer nicht voran. Dagegen leisten Unternehmensführer, die sich stark mit den Unternehmen identifizieren und denen ein eher dienendes Selbstverständnis eigen ist, einen größeren Beitrag zur Rentabilität. An der Frage, wer dem Unternehmen dient und wer nur sich selbst, trenne sich die Spreu vom Weizen. „Wie managen Unternehmenschefs ihr eigenes Ego?“, fragt die Forscherin. „Die wirkungsvollsten Leader sind die, die verstehen, wie man Mitarbeiter motiviert, Strategien vermittelt und kommuniziert.“
Das Gegenteil des Narzissten also ist vorteilhafter: der dienende Chef. Das Konzept des „Servant Leadership“ ist nicht neu, der Begriff stammt von dem längst verstorbenen AT&T-Manager Robert Greenleaf, der große Zweifel an dem langfristigen Erfolg machtzentrierter autoritärer Führungsstile hegte, seine Karriere an den Nagel hängte und 1977 ein viel beachtetes Buch dazu veröffentlichte. Es ist eine Absage an den Ego-Trip.
Wünscht sich nicht ein jeder im Arbeitsleben den „dienenden“ Chef, den, der sich nicht immerzu aufdrängt in seiner Selbstverliebtheit, der andere an seinen Entscheidungen beteiligt und seine Mitarbeitern in ihrer Entwicklung befördert, ohne dass dies alles immer nur mit dem Hintergedanken geschieht, sein eigenes Ego zu befriedigen?
Schön wäre es. Glaubt man dem Münchener Managementforscher Frey, sind Deutschland Top-Manager mental derzeit allerings nicht unbedingt in bester Verfassung. „Ich kenne viele Dax-Vorstände, die eine gesunden aber keinen übersteigerten Narzissmus haben“, sagt er zwar. Aber es gebe auch die unendlich vielen anderen, deren Selbstüberschätzung kaum noch Grenzen kennt.
Das wiederum hat Gründe: Dienend kommt man nicht so leicht nach oben. Auch das haben Studien über die vergangenen Jahrzehnte hinreichend zu tage gefördert. Deswegen tummelt sich in den Führungsetagen eine gewissermaßen vorselektierte Stichprobe. Der Weg nach oben filtert die Narzissten heraus. Der Selbstverliebte ist schneller erfolgreich.
Dass er sich immerzu durchzusetzen vermag, ist allerdings nicht nur seiner eigenen Eitelkeit geschuldet, sondern auch der Blindheit derer, die sich zunächst gerne blenden lassen. Dieter Frey gibt zu bedenken: „Wichtig ist zu erkennen, dass es immer zwei Parteien braucht, damit ein krankhafter Narzisst in die Führungsetage gelangt: nämlich eine Person, die sich in die narzisstische Richtung entwickelt, und die, die es zulassen.“
Zurück zum Flieger: Ist er am Ende der Analyse geheilt? Ja und nein. Zwar verliert er die Panik, die ihn immer wieder ergriffen hatte, wenn es um sein Unternehmen ging. Aber gekommen war er aus einem ganz anderen Grund – seiner gestörten Beziehung zu anderen Menschen. Hier geht die Geschichte nicht wirklich gut aus. Auf der Couch wollte er lernen, wie er hier „besser“ werden kann, um noch erfolgreicher zu sein.
In ähnlicher Form auch erschienen in der F.A.S.
Ölpreis im freien Fall
Fortsetung:
An der Entscheidung von Shell wird auch der dramatische Verfall des Ölpreises einen Anteil haben. Binnen eines Jahres hat sich der Preis auf 45 Dollar je Fass der Sorte WTI halbiert. Und kaum einer glaubt derzeit daran, dass es bald wieder aufwärts geht. Mit dem Abrutschen des Preisniveaus hat sich für die Öl-Konzerne das Verhältnis von Chance und Risiko verändert. Je größer die Unsicherheit und die politischen Risiken, desto höher muss der Ölpreis sein, um ein Vorhaben zu wagen. Oder es muss zumindest die berechtigte Aussicht darauf bestehen, dass er bald wieder kräftig steigt. Und genau das ist derzeit nicht der Fall.
Die Entscheidung von Shell liegt in zeitlicher Nähe zu einer Prognose der mächtigen Investmentbank Goldman Sachs vor gut zwei Wochen. Der Ölpreis werde längerfristig nicht nur niedrig bleiben, er könnte sogar noch auf 20 Dollar fallen. „The New Oil Order“ – die neue Ölmarktordnung hatte Goldman Sachs-Analyst Jeffrey Currie seine Studie mit der spektakulären Prognose überschrieben und darin sogar von einem Paradigmenwechsel am Ölmarkt gesprochen. „Das amerikanische Fracking hat die globalen Energiemärkte vollkommen verändert,“ sagt er. Das heißt: Die Strukturen auf der Angebots- und Nachfrageseite des Marktes haben sich derart verschoben, dass die alten Mechanismen der Preisbildung außer Kraft sind. Mit der umfangreichen Förderung von Schieferöl sind die Vereinigten Staaten in wenigen Jahren vom Nachfrager zum Produzenten geworden. Dabei ist das Fracking ein vergleichsweise schnelles Geschäft, das kurzfristig Kapazitätsanpassungen erlaubt. Es ist nicht halb so komplex und langwierig wie Tiefseebohrungen.
„Die Vereinigten Staaten fallen auf der Nachfrageseite als genau jener Marktteilnehmer aus, auf dessen Marktverhalten der Ölpreis früher reagierte“, sagt Goldman Sachs-Analyst Currie. Dadurch hat die Opec als größter Anbieter ihre Macht über die Preisentwicklung verloren. Früher passte sie die Fördermengen an und versuchte weitgehend erfolgreich, den Preis auf etwa dem Zehnfachen ihrer Produktionskosten stabil zu halten. Das funktioniert nicht mehr.
Fatih Birol, neuer Chef der Internationalen Energie-Agentur (IEA) in Paris drückt das so aus. „Die Öl-Welt hat sich völlig gewandelt. Die früheren Trennlinien zwischen Ölexporteuren der Opec und den Importeuren der IEA sind brüchig geworden.“ Das hat Konsequenzen: Wenn sich Rollenverteilungen in Märkten verändern, sind Machtkämpfe die Folge. Auf Märkten werden diese als knall harte Verdrängungswettbewerbe ausgetragen. Und die funktionieren immer über die Preis. Der sinkt.
Die Golfstaaten haben sich auf diesen Verdrängungskampf eingelassen. Sie fördern an der Kapazitätsgrenze, überschwemmen den Markt mit Rohöl und setzen darauf, dass ein dauerhaft niedriger oder sogar noch weiter sinkender Preis eine ganze Reihe von Ölproduzenten aus dem Markt drücken wird.
Schon vor längerer Zeit ahnte BP-Chef Bob Dudley als einer der ersten CEOs der großen Ölkonzerne, was auf die Branche zukommen: „Es ist wirklich eine harte Zeit für die Branche. Es fühlt sich an wie 1986". Seinerzeit war der Preis für Nordsee-Öl auf unter zehn Dollar je Barrel gestürzt, die Golfstaaten verkauften das Fass sogar zu 8 Dollar. Zuvor war Ende Juni 1986 die Opec-Konferenz gescheitert. Die Golfstaaten konnten sich nicht auf eine Drosselung der Fördermenge einigen. Zwölf lange Jahre sollte es dauern, bis sich im Januar 1999 die Rohstoffpreise langsam wieder erholten. Öl wurde teurer – und erreicht dann Mitte 2008 einen nie dagewesenen Höhepunkt von 150 Dollar je Barrel.
Gehen wir davon aus, dass es so kommt, wie Goldman Sachs prognostiziert, weil erstens die Gründe für einen weiteren Verfall des Ölpreises derzeit so zwingend logisch erscheinen und zweites das Gros der Marktakteure tatsächlich daran glaubt und sich entsprechend darauf einstellt. Wenn es also so ist, das der Ölpreis in absehbarer Zeit bis auf 20 Dollar fallen könnte, dann sind viele Unternehmen der Welt davon betroffen – vielfach zum Nachteil der Volkswirtschaften. Doch wird der niedrige Preis nicht nur die Macht- und Marktverhältnisse zwischen den Konkurrenten im Ölgeschäft verschieben, sondern auch zwischen Produzenten und Verbrauchern und sogar zwischen Staaten.
Die großen Ölkonzerne Exxon Mobil, Royal Dutch Shell, Chevron, ConocoPhillips, Total, BP und Eni sind längst dabei, die Kosten drastisch zu reduzieren – nach Einschätzung der schottischen Energieberatungsgesellschaft Wood Mackenzie sind mindestens 20 bis 30 Prozent notwendig. BP hatte schon Ende Juli angekündigt, wie es dem Preiskampf begegnen will: vor allem mit Desinvestitionen. Richtig schwierig könnte es für die kleineren Ölproduzenten werden, die eigentlichen Pioniere, welche die Mehrzahl neuer Ölfelder entdecken und erschließen. „Sie hangeln sich von Projekt zu Projekt, von Ölfeld zu Ölfeld“, sagt Steffen Bukold, Leiter des unabhängigen Beratungsbüros EnergyComment aus Hamburg mit Blick auf Unternehmen in einer Größenordnung von Tullow Oil oder Afren. Der niedrige Preis unterminiere die Finanzierungsmöglichkeiten der kleineren Konzerne. Banken engagierten sich weniger. Einige von ihnen werde es einfach vom Markt fegen. Auch das Fracking lohnt sich immer weniger. Der Boom schwächt sich ab. Unternehmen melden Insolvenz an, Mitarbeiter werden zu tausenden entlassen.
Werden Vorhaben gestoppt, leiden die Zulieferer der Ölindustrie. Prominentestes Beispiel ist derzeit der Siemens-Konzern, der für 7,8 Milliarden Dollar erst im Juni den im texanischen Houston ansässigen Ausrüster Dresser-Rand gekauft hat. Dort müssen jetzt Stellen abgebaut werden – nicht zuletzt, weil sich Investitionen von Kunden verzögern. Dresser-Rand produziert Kompressoren und Turbinen, die in der Erdölförderung zum Einsatz kommen. Umsatzrückgang und Verluste sind die Folge, wenn die Kunden aus der Ölindustrie lieber abwarten. Die Ölindustrie ist arbeitsteilig. Die negative Wirkung des niedrigen Ölpreises setzt sich deshalb über eine lange Wertschöpfungskette fort.
So richtig geheuer ist der Ölpreisverfall niemand. Es gab zwar Zeiten, in denen Ökonomen niedrigen Energiepreisen die Wirkung von Konjunkturprogrammen zuschrieben. Doch davon ist derzeit nicht die Rede. „Es gibt viele Anzeichen dafür, dass der konjunkturelle Effekt, den ein niedriger Ölpreis normalerweise mit sich bringt, für Amerika nicht zum Tragen kommt“, sagt Energie-Berater Bukold. „Denn im Gegenzug sind die Investitionen in der Öl- und Gasbranche stark eingebrochen sind.“ Und das in historisch nie dagewesenem Ausmaß. Wood Mackenzie hat die aufgegebenen Vorhaben schon zusammengezählt und schätzt, dass in den Jahren 2015 und 2016 Investitionen in Höhe von 220 Milliarden Dollar gestrichen wurden und werden. Das wirft seine Schatten voraus – auch auf die Ausrüstungsbranche in Deutschland. Das Projektgeschäft der Pumpenbauer zum Beispiel läuft nicht mehr so gut. Sogar der Automobilindustrie kann die ganze Entwicklung nicht wirklich gefallen. Sie hat Milliarden in neue Technologien für Elektro-Autos investiert. Die aber sind für die Verbraucher unattraktiver denn je, weil der Sprit zu günstig ist, als dass die Käufer derzeit bereit wären, in die noch teure Technologie eines Elektrowagens zu investieren.
Will man der Preisentwicklung am Markt etwas Positives abgewinnen, muss man die Perspektive wechseln. „Der niedrige Ölpreis verteilt die Vermögen neu – weg von den Ölproduzenten hin zum Verbraucher“, sagt Energieberater Bukold. Er macht eine einfache Rechnung auf. Der Ölpreis sei um 50 Dollar je Fass gefallen. Jeden Tag würden 95 Millionen Fass verbraucht. Die Verbraucher sparten dadurch weltweit knapp 4,8 Milliarden Dollar – am Tag. „Auf’s Jahr gerechnet werden auf diese Weise 1700 Milliarden Dollar neu verteilt. Diesmal zugunsten der Konsumenten.“ Die merken das spätestens an der Tankstelle, wenn der Preis für einen Liter Diesel plötzlich mit weniger als einem Euro angezeigt wird. Und sie tanken tatsächlich auch mehr. Ob die durch den niedrigen Ölpreis steigende Nachfrage den Preisverfall bremsen kann, bleibt allerdings fraglich, solange Verdrängungskämpfe um Marktanteile toben.
Man könnte Preisentwicklung auch als das Ergebnis eines geopolitisches Machtspiels deuten. „Wer das Öl kontrolliert, beherrscht die Staaten“, hatte der amerikanische Außenminister Henry Kissinger nach der Ölkrise der siebziger Jahre gesagt. Der Verdrängungswettbewerb ist ein Kampf um politischen Einfluss. Im Moment kontrolliert niemand irgendetwas. Doch hat der Verfall des Ölpreises für viele Erdöl produzierende Länder, deren Haushalte auf den konstanten Fluss der Petro-Dollar bauen, verheerende Auswirkungen. Er schwächt sie beträchtlich. Betroffen ist allen voran auf Russland, aber auch Venezuela, Nigeria, Iran und Irak, ebenso Norwegen. Der niedrige Ölpreis könnte auf längere Sicht ganze Regionen destabilisieren.
Allerdings gibt es auch Investoren, die die ganze Geschichte vom Ölpreisverfall ein wenig anders erzählen als der Mainstream. Gerade jetzt. „Ich habe in den vergangenen Jahren den Ölpreisrückgang genutzt, um in die kanadische Ölindustrie zu investieren“, sagt Matthias Woestmann, der über seine Investmentholding Quadrat Capital Kapital anlegt. Die Holding hat eine Beteiligung an einem kanadischen Explorationsunternehmen erworben, das sich in Kanada Bohrungsrechte gesichert hat. Mit dem Drilling, den sogenannten Probebohrungen wurde schon begonnen. Der niedrige Ölpreis verunsichert dort niemanden, auch Woestmann nicht. „Wir können selbst für 20 Dollar je Barrel noch kostendeckend produzieren“, sagt er und sieht die Entwicklung am Markt viel optimistischer. Die Ölindustrie müsse jährlich rund 300 Milliarden Dollar investieren, um die Produktion in etwa aufrecht zu erhalten. Genau das tut sie aber gerade nicht, was für die Unternehmen in einigen Jahrzehnten unangenehme Folgen haben könnte: Die bestehen Quellen werfen immer weniger ab. Wenn zudem auf die Erkundung neuer Vorkommen verzichtet wird, werden die Konzerne künftig weniger Öl fördern können. In 15 Jahren wollte Shell die Produktion vor Alaska hochfahren.
„In einigen Jahren kommt dieser Spareffekt in der konventionellen Ölindustrie zum Tragen“, sagt Woestmann. „Die Ölproduktion wird weltweit sinken.“ Wenn dann auch noch die Ölnachfrage aufgrund des niedrigen Ölpreises steigt – ein Effekt, den man derzeit schon beobachten kann – wird sich auf Dauer auch der Preis wieder erholen. „Ein niedriger Ölpreis heute bedeutet Ölknappheit morgen“, zitiert der Investor eine alte Regel des Ölmarktes, die seiner Meinung nach ungeachtet aller Verschiebungen im Machtgefüge von Angebots- und Nachfrageseite ihre Gültigkeit noch nicht verloren hat.
Und wenn die Welt das ganze Öl langfristig gar nicht mehr will? Wenn die Staaten beschließen, sich immer mehr von fossilen Brennstoffen abzuwenden und wie Deutschland die Energiewende weiter vorantreiben? Auch da bleibt Investor Woestmann gelassen. „Das ist ein Prozess, der frühestens in einem Jahrzehnt erste Auswirkungen zeigen könnte.“ Wenn man sehr langfristig denke, müsse man das einkalkulieren. Für sein eigenes Investment spiele das allerdings heute keine Rolle. Zwei Drittel der Ölnachfrage ist mobilitätsgetrieben. Und der Verkehr fährt zu Land oder in der Luft fast ausschließlich mit Sprit.
Ob das alles so kommt?
Festlegen will sich derzeit niemand. „Ölproduzenten sind um ein Vielfaches flexibler als früher“, sagt Goldman Sachs-Analyst Jeff Currie. „Das macht den Markt kaum noch vorhersehbar.“ Damit nimmt er seine Prognose etwas von ihrer Dramatik. Die meisten sind sich sicher: Irgendwann muss der Preis wieder steigen, was zur Binsenweißheißt gerät, wenn man die Wendepunkt der Entwicklung nicht benennen kann. Eigentlich ist die Frage nach der Zukunft des Ölpreises auch keine nach dem Faktischen, sondern eine des Glaubens. Wann werden die Akteure des Ölmarkts ihre Einschätzung ändern und darauf setzen, dass der Preis wieder steigt? Ende 2016 schon oder vielleicht 2017? Zumindest BP-Chef Bob Dudley hat sich vage festgelegt: Einige Jahre wird er wohl noch so niedrig bleiben.