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Auf den zweiten Blick

Meine Kolumne im Hauptstadtbrief

28. Januar 2023

 

A - 13561

Es gibt nicht mehr viele, die so erzählen können wie Rachel Hanan. Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer natürlich noch, die vergangene Woche ein paar Tage vor dem offiziellen Holocaust-Gedenktag das Verdienstkreuz 1. Klasse verliehen bekam. Doch die meisten ihrer Zeitgenossen leben nicht mehr. Eine der wenigen ist jene Israelin mit rumänischen Wurzeln, die in den nordöstlichen Karpaten aufwuchs und eben Rachel Hanan heißt.

Hanan, die ihre Lagernummer auf ihrem linken Unterarm bis heute nicht entfernen ließ, hat das Unfassbare er- und überlebt, hat mehr ein halbes Jahrhundert eisern geschwiegen, dann aber begonnen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, ist jetzt noch einmal ganz tief hinabgestiegen in das Damals und hat ihre Geschichte dem Journalisten und Autor Thilo Komma-Pöllath erzählt. Er hat ihren Weg nachgespürt, ist in ihre Vergangenheit nach Ausschwitz gereist und hat ihre Erlebnisse und Gedanken aufgeschrieben. Das Buch wird eines der letzten zu dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte sein, die noch aus erster Hand entstehen können. Schon deshalb ist es so wichtig.

Hanans Schicksal ist eines der Unwahrscheinlichkeiten. Sie hat ja nicht nur Auschwitz, Bergen-Belsen, Duderstadt und Theresienstadt überlebt, sondern aus Zufall auch ein Bombardement ihres Gefangenentransports und schließlich mit eisernem Willen bei einem Körpergewicht von gerade noch 25 Kilogramm den Todesmarsch. Sie hat als Fünfzehnjährige die grausige Trennung von ihren Eltern und jüngeren Geschwistern an der Rampe mit ansehen müssen, die Josef Mengele mit einer einzigen Andeutung seines Gehstocks direkt ins Gas schickte. Und schließlich hat sie das Überleben überlebt mit der ewig quälenden Frage, warum ausgerechnet sie diesen Höllen entkommen konnte. Vor 78 Jahren am 27. Januar 1945 wurde Ausschwitz befreit, da war sie längst verschleppt. Am 9. Mai hatte das unmittelbare Grauen auch für sie ein Ende.

Die Außergewöhnlichkeit des Buches liegt nicht allein in der Wucht der Erzählung dessen, was Rachel Hanan erleiden musste. Sie liegt in der selten präzisen Beschreibung ihrer Gefühlswelt und ihrer Reflektion darüber. Sie rührt zudem aus den schonungslosen Fragen, die sie stellt – nicht nur Leserinnen und Lesern, sondern in erster Linie sich selbst. Und die um das kreisen, was das Menschsein bestimmt, das Böse wie das Gute: Was ist die Menschenwürde? Was ist der freie Wille, der angesichts der totalen Entwürdigung zur Chimäre gerät? Unter welchen Extrembedingungen wird ein Mensch zum wilden Tier? Wer sind wir, wenn wir zu so etwas wie Ausschwitz fähig sind? Jeder Einzelne von uns?

Die Stärke sind zudem die Sätze, die sie ausspricht, solche, die man sich zu denken verbietet, etwa dass „Gut und Böse an einem Ort wie Ausschwitz nicht so fein säuberlich getrennt waren“, wie man das glauben wollen würde.

Die Urkraft des Textes aber, der man sich kaum entziehen kann, liegt in seiner Versöhnlichkeit. Nicht des Opfers Rachel Hanan mit dem Tätervolk, sondern der Protagonistin mit ihrem Schicksal. Eine Versöhnung, die es ihr ermöglicht, am Ende einen Satz zu sagen, der aus dem Munde einer, die so tief in die Abgründe des menschlichen Verhaltens blicken musste, bis heute an ein Wunder grenzt: „Im Gegensatz zum Glauben an den einen Gott, der alles richtet, habe ich den Glauben an die Menschen nie verloren.“

 

14. Januar 2023

Gesundes Neues!

Was hat das World Economic Forum (WEF) in Davos, das in den kommenden fünf Tagen wieder einen konstanten Nachrichtenstrom produzieren wird, mit dem amerikanischen Bundesstaat Kalifornien zu tun?

Um die Frage zu beantworten, lohnt es sich, genauer hinzuschauen und beherzt zu kombinieren. In Kalifornien ist mit Beginn dieses Jahres ein interessantes Gesetz in Kraft getreten, das der sogenannten Pink Tax entgegenwirken soll. Darunter versteht man die geschlechter­spezifischen Preisunterschiede für an sich gleichwertige Produkte, für die Frauen deutlich mehr bezahlen müssen als Männer. Wider allen Beteuerungen der Industrie steht dahinter ausschließlich ein geschäftliches Interesse. Das Phänomen betrifft nicht nur Kosmetika, Friseurdienstleistungen oder Kleidung, sondern noch vieles mehr. Weil die Preisaufschläge sich in ihrer Wirkung mit einer Art Extra-Besteuerung vergleichen lassen, wird von eben jener pinkfarbenen Steuer gesprochen. In Kalifornien beträgt diese je Frau geschätzt fast 2400 Dollar im Jahr, was der Industrie jährlich 47 Milliarden Dollar an zusätzlichem Umsatz beschert.

Wie auch immer dieser Gesetzesversuch ausgeht, lenkt er den Blick auf ein Thema, dass noch längst nicht im allgemeinen Bewusstsein angekommen ist: die Steuer auf das Anderssein. Wie viel Frauen tatsächlich aufgebürdet wird, weiß so richtig niemand. Nur eines ist sicher: Die Steuer ist sehr viel höher als ein paar tausend Dollar im Jahr. Ihr Anderssein kann Frauen sogar das Leben kosten. Wie das?

Genau dort kommt Davos ins Spiel. Allerdings nicht mit dem alljährlichen Glamourzirkus, im Rahmen dessen sich Regierungs­mitglieder und CEOs weitgehend selbst bespiegeln, sondern vielmehr mit verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, zu denen das WEF über das Jahr Expertise sammelt oder in Auftrag gibt. Für 2023 findet sich darunter ein Thema von bisher weit unterschätzter Relevanz. Es ist das der Frauengesundheit, die die Forschung jenseits der Reproduktions­medizin bisher nicht wirklich interessiert, obwohl die Hälfte der Weltbevölkerung weiblich ist. Gesichert ist, dass über alle Krankheiten hinweg Frauen deutlich später als Männer eine Diagnose erhalten. Die Medizin ist noch immer allzu männlich, der Maßstab des Gros medizinischer Studien ein Mann von 75 Kilogramm. Am Beispiel von Herzkreislauferkrankungen ist das schnell erläutert. Herzinfarkte kündigen sich bei Männern mit Schmerzen in der Brust an, bei Frauen dagegen mit weit diffuseren Symptomen. Weil man weniger darüber weiß und sie deshalb später erkennt, sterben Frauen häufiger an der Attacke.

Das Geschlecht spielt bei Erkrankungen und deren Behandlung sowie bei der Prävention eine noch viel entscheidendere Rolle als bei Kosmetika. Auf dem Feld der Gesundheit ist die Steuer auf das Anderssein deshalb auch sehr viel höher als bei den für ein paar extra Dollar rosa verpackten Cremes. Vielmehr begleichen Frauen diese ihnen auferlegte Pink Tax mit ihrem Wohlbefinden.

Nun muss das WEF dieses Thema natürlich auf die Ebene des Ökonomischen heben. Eine bessere Frauengesundheit leistet nicht nur einen erheblichen Beitrag zum Welt-Bruttosozialprodukt. Sie bietet auch hervorragende Investitionsmöglichkeiten. Mehr noch: Deren weit über das Betriebswirtschaftliche hinausgehenden Renditeeffekte sind viel ehrlicher als alles, was sich die Unternehmen bisher mit ihren Mogelpackungen ergaunern.

 

10. Dezember 2022

 

Hoffnungskonzert

In der vergangenen Woche erreichten Deutschland überraschende Nachrichten aus dem Nahen und Fernen Osten. Im Iran hat sich die islamische Regierung offenbar entschlossen, die in der Bevölkerung so verhasste Sittenpolizei aufzulösen. Ob damit allerdings auch das Kopftuchgebot fällt, ist noch nicht ausgemacht. Derweil hat sich die chinesische Staatsführung dazu durchgerungen, die drakonischen Maßnahmen ihrer gescheiterten Null-Covid-Politik zu lockern. Ein bisschen zumindest. Erreicht hat das jeweils eine Bevölkerung, die sich – bewundernswert mutig – ihren autoritären Regimen entgegenstellt. In beiden Ländern konfrontierten die Protestierenden ihre Staatsführung mit unzähligen spontanen, punktuellen und gerade deshalb unberechenbaren Aktionen. Ob die politischen Zugeständnisse diese Widerstände beruhigen oder beflügeln, ist nicht vorherzusagen.

Die Reaktionen des Westens lassen bei solchen Nachrichten gleichwohl nie lange auf sich warten: Sie münden in der hoffnungsvollen Frage, ob die seit Jahrzehnten so rigiden Systeme inzwischen nicht an ihre Grenzen kommen. Mehr noch: ob diese mit immer härteren Zugriffen auch auf das Privatleben der Bevölkerung ihrer Abschaffung auf Dauer nicht sogar Vorschub leisten. Diesmal aber ist es anders, heißt es dann mit Blick auf die öffentlich geäußerte Wut. Mag sein oder auch nicht, aus dem Ausland oder lediglich den iranischen oder chinesischen Metropolen ist die Lage im gesamten Land jeweils nur schwer zu beurteilen.

Genau das lässt Raum für das Prinzip Hoffnung, das so manch sachlichen Blick vereitelt. Jenen zum Beispiel, wie sich die Zahl der Kritiker eines Regimes zu der der Verzagten, der Dulder oder gar seiner Verfechter in der Bevölkerung verhält. Die Hoffnung lässt sich so leicht eben nicht unterkriegen, genährt durch den tiefen Wunsch, dass sich Gesellschaften nach den Grundprinzipien einer demokratischen Postmoderne befreien mögen.

Genau hierin findet die Hoffnung ihre Schattenseite – als zutiefst ambivalente Grundemotion, die permanent gefüttert werden will und schon deshalb dazu verführt, ein jedes Detail allzu positiv zu deuten. Andernfalls würde sie versiegen. Dass sich daraus unzählige Fehleinschätzungen ergeben, nicht nur im Privaten, gerade auch im Politischen, ist durch die Wirklichkeit verbürgt: Die monatelangen Proteste auf dem Platz den Himmlischen Friedens in Peking 1989 hatten keinen Erfolg, sie endeten in einem Blutbad. Die grüne Widerstandsbewegung im Iran ist nicht zur Revolution mutiert. Aus den Ländern, die einst in den Arabischen Frühling aufbrachen und darin vom Westen aus sicherer Entfernung so hoffnungsfroh über die Fernsehschirme begleitet wurden, sind weitgehend keine freiheitlich demokratischen Staatsgebilde hervorgegangen. Durch die von dem augenscheinlichen Veränderungsmomentum ausgehende Faszination und die Hoffnung auf einen nach westlichen Maßstäben so wünschenswerten Ausgang nahm sich die Beurteilung der Geschehnisse damals noch sehr anders aus als heute im Rückblick.

Kann es sein, dass der Westen der Hoffnung immer wieder in die Falle geht und gesellschaftliche Beharrungskräfte übersieht, die noch viel größer sind als die autoritären Regierungsapparate selbst?

 

 

26. November 2022

 

Sedimente

Das populärste Familienfest der Welt ist ein christliches. Und es steht unmittelbar bevor. Wenn zu Adventsbeginn auch die letzten Fenster weihnachtlich dekoriert sind, klingt selbst das Kirchengeläut anders als in den ersten elf Monaten des Jahres.

Sehr weihnachtlich dürfte den katholischen Bischöfen hierzulande allerdings nicht zumute sein, wenn sie in ihren Gotteshäusern die erste Kerze entzünden. Mit gebeugten Häuptern gehen sie in eine schwierige Adventszeit, in die sie der Vatikan aus ihrem Routinebesuch arg gedemütigt entlassen hat. Sie wollten vom Aufbruch der katholischen Kirche in Deutschland berichten, haben sich in Rom die Münder müde geredet und sind gegen Betonwände gerannt. Der Papst ließ sie an ihrem entscheidenden Treffen einfach sitzen. Er wollte nicht hören, auf welchen Wegen sie die Kirche zumindest in Deutschland in eine demokratische Moderne führen und ihr Verschwinden in unserer postindustriellen, aufgeklärten Wissensgesellschaft verhindern wollen.

Aus päpstlicher Sicht sind die Themen, die die deutschen Bischöfe gemeinsam mit den christlichen Laien inzwischen aufgeworfen haben, freilich heikel. Es geht um die Zulassung von Frauen in Weiheämtern, um einen anderen Umgang mit Sexualität und Partnerschaft und vor allem um eines: die Teilung von Macht.

Der Vatikan ist engstirnig genug, nicht einzusehen, dass sich Macht durch Machtworte irgendwann nicht mehr konservieren lässt. Die Abstimmung mit den Füßen hat längst begonnen angesichts der Kirchenaustritte nicht nur in Deutschland, sondern längst auch anderswo. Das so katholische Italien fällt vom Glauben ab, und in Lateinamerika, vor allem in Brasilien, spricht man gar von einer Kernschmelze.

In der katholischen Kirche tobt ein Machtkampf. Es ist längst nicht mehr der übliche zwischen geltungshungrigen Kurienkardinälen, sondern einer zwischen Institution und Kirchenvolk um die Deutungshoheit dessen, wer und was Kirche ist. Dabei liegt das Übel in der autoritären Ausrichtung eines Systems, dessen Protagonisten es aus Sorge vor Macht- und Vermögensverlust im Laufe der Geschichte beständig versäumt haben, die Entstehung ihres gesamten Regelwerks aus den Zeitläuften heraus zu hinterfragen, um es der Zeit entsprechend anzupassen und damit heute auf ein freiheitliches, humanistisches Weltverständnis auszurichten. Nicht jedes Kirchengesetz, das sich über die Jahrhunderte wie Sediment um den Kern des Christentums abgelagert hat, ist aus diesem heraus zu rechtfertigen. Mag die Botschaft auch eine göttliche sein, die Kirche ist von Menschen gemacht.

Diese überfällige Überprüfung haben jetzt ausgerechnet jene übernommen, die die Kirche eigentlich kontrollieren will. Dabei legt die Hybris derer, die – noch – jede Modernisierung verhindern, einen anderen Schluss als lediglich Realitätsferne nahe: Dort sind einem exklusiven, privilegierten Zirkel die 1,36 Milliarden Mitglieder der katholischen Kirche reichlich gleichgültig, auch wenn der Papst gerne in einem Fiat daherkommt.

Zurück zu den deutschen Bischöfen. Mutig sind sie in eine Einbahnstraße eingebogen. Das merken sie jetzt. Sie haben – die ewig Gestrigen ausgenommen – einen Weg eingeschlagen, auf dem es kein Zurück mehr gibt. Die noch verbliebenen Katholiken werden einfordern, was sie in greifbarer Nähe wähnen. Es bleibt den Bischöfen nur der Weg nach vorne und damit die Konfrontation mit Rom. Das Zeug dazu hätten sie. Der Ausgang jedenfalls ist offen, das Schisma nicht mehr ausgeschlossen.

 

12. November 2022

Trapsereien

Jetzt im Winter, wenn es dunkel wird, sich die weltpolitische Lage so düster ausnimmt und die Wohnungen aufgrund der Energiekrise um drei Grad heruntergekühlt werden, muss man von Sonnenstrahlen träumen und von den Farben. So wie Frederick, die wohl berühmteste Dichtermaus der Welt, die in dem gleichnamigen Buch das Herz ihrer Artgenossen und das von Millionen minderjährigen Lesern alljährlich im Winter durch die Kraft der Imagination erwärmt.

Es kann in krisenhaften Zeiten tatsächlich helfen, sich „warme Gedanken zu machen“. Nicht nur als Kind, viel mehr noch als Erwachsener. Nur, wie soll das gehen, wo wir doch abgeklärt und ausgekühlt die versteckte edukativ-philosophische Botschaft der Dichtermaus längst durchschaut haben?

Hier wäre ein Vorschlag – für Erwachsene und ganz ohne Hintergedanken: Imaginieren wir uns in den Sommer und träumen von den Vögeln. Und weil das so einfach nicht ist, weil man sie derzeit kaum zu hören bekommt, könnten wir uns ebenfalls mit einem Büchlein behelfen, das unlängst – warum auch immer zu Beginn der dunklen Jahreszeit – erschienen ist: Wanderer zwischen den Welten. Was Vögel in Städten erzählen Die Evolutionsbiologin Caroline Ring schreibt darin hingebungsvoll über ihre urbanen Streifzüge auf der Suche nach den flatternden Kreaturen.

Bevor man sich versieht, ist man mittendrin in der Vogelwelt und liest allerlei Erstaunliches. Zum Beispiel, dass immer mehr Vögel in die großen Städte ziehen, die so zu Inseln der Vogelvielfalt heranreifen, weil die von Agrar-Monokultur geprägte Landwirtschaft den Vögeln nicht mehr genug bietet. Gerade dort also, wo der Verkehr über die Zeit die Fassaden schwärzt, die Straßenbeleuchtung den Himmel nie ganz dunkel werden lässt und der Lärm täglich unerträglich anschwillt, ist ziemlich viel los. So viel, dass Ornithologen daraus einen Witz kreiert haben: Wohin schickt man jemanden, der in Deutschland die Vogelwelt erkunden will? Nach Berlin, in Deutschlands mit Abstand größte und schmuddeligste Metropole. Zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Vogelarten sind dort zuhause. Noch erstaunlicher, dass sich allsommerlich vor allem die Nachtigall in der Hauptstadt niederlässt – nirgends sonst gibt sie so zahlreich wie an der Spree, wenn sie nicht gerade in Ghana überwintert.

Warum eigentlich? Ein besonderes Nachtigallenprogramm kann sich die chronisch klamme Hauptstadt nicht leisten. Und besonders viele Grünflächen weist sie gegenüber Hamburg oder Stuttgart auch nicht auf. Den Vögeln ist das Geld egal, aber sie lieben das Chaos, wenn es aus allen Spalten und Ritzen unordentlich sprießt. Hier ist Berlin den glatt gebürsteten Städten des wohlhabenderen Südens überlegen. Aus München verschwinden sogar die Spatzen.

Während man weiterliest und sich die Brennnesseln vorstellt, die unfrisierten Buchenhecken oder die unsäglichen Knallerbsenbüsche, in denen sicher ein Zaunkönig hockt, dann ist plötzlich der Sommer ganz nah, obwohl er sich gerade verabschiedet hat. Legen wir uns dieses einmalige Vogelbüchlein also mit Beginn des Winters auf den Nachttisch und lesen immer mal wieder darin. Nicht nur über Nachtigallen, sondern auch über Uhus, Mauersegler, Amseln, Grünspechte, Haubenlerchen und Halsbandsittiche, die dann in unserer Vorstellung zu zwitschern beginnen und mit jedem weiteren Kapitel immer präsenter werden, bis ganz langsam die Wärme und die Farben aufsteigen.

29. Oktober 2022

Crash-Propheten

Der Bundeswirtschaftsminister zeigt Nerven. Verständlicherweise dünnheutig ist Robert Habeck geworden und – leider – etwas zu larmoyant. Sicher nicht nur, weil er sich derzeit erstens schwertut, grüne Wirtschaftspolitik zu betreiben, und zweitens zeitlich enorm belastet ist, sondern vor allem, weil die Gleichzeitigkeit exogener Schocks das deutsche Wirtschaftsmodell erschüttert, das uns allen in den vergangenen 15 Jahren Beschäftigung und Wohlstandszuwachs beschert hat. Der Minister und Vizekanzler hat tatsächlich schwer zu tragen.

Doch statt Fortschritt zu organisieren, wozu diese Krise mit ihrem gewaltigen Veränderungsdruck durchaus Anlass gäbe, hat er sich auf die Bekämpfung von Engpässen verlegt. Verdienstvoll zwar, aber reichen wird das nicht. Unlängst bereitete er das Land mit ernster Miene auf eine Rezession vor und nahm dabei sogar das Wort „schlimm“ in den Mund – ein klassischer polit-psychologischer Lehrbuchfehler. Dass der Abschwung womöglich schon im Jahr 2024 wieder vorüber sein könnte, für das die Bundesregierung 2,3 Prozent Wachstum berechnet hat, vernahm danach fast niemand mehr.

Fatalerweise ist Habeck nicht der einzige Rezessionsprediger. Der Ökonom Marcel Fratzscher verkündete eine bevorstehende Pleitewelle ungeahnten Ausmaßes. Zu seinem Szenario passen warnende Sätze einiger seiner Kollegen, die nicht den Abschwung selbst in Frage stellen, sondern gar nicht erst zu prognostizieren wagen, wie fürchterlich dieser werden wird. Der Internationale Währungsfonds und die OECD bestätigen all das für Deutschland in Superlativen, was hierzulande wiederum auf fruchtbaren Boden fällt. Die deutsche Wirtschaft werde von dem Beben, das die verschiedenen Krisen auslösen, die sich derzeit wie tektonische Platten übereinanderschieben, am härtesten getroffen. Und das mit dystopischen Konsequenzen, befürchten wiederum andere, denen schon die Millionen Menschen vor Augen stehen, die im Winter aus Wut und Verzweiflung auf den Straßen für Unruhen sorgen und so nicht nur die öffentliche Sicherheit, sondern auch die Demokratie gefährden.

Kein Zweifel, die Lage ist so herausfordernd wie wohl noch nie seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber: Man kann das Land auch in die Krise reden, um damit ausgerechnet das aufs Spiel zu setzen, was seine Widerstandsfähigkeit begründen könnte: ein enormes Innovationspotential sowie Fleiß und Sparsamkeit der Bürger. Warum ist die Unheil-Prophetie gleichwohl so attraktiv?
 
Wie für Meteorologen ist es auch für die Reputation von Politikern und Wissenschaftlern nachteilhaft, heraufziehende Stürme nicht rechtzeitig als solche identifiziert zu haben. Denn vor Katastrophen nicht gewarnt zu haben, bleibt der Öffentlichkeit im Falle ihres Eintritts gemeinhin als unverzeihliche Fehlleistung für immer im Gedächtnis. Und das aus erwiesenem Grund: Den Menschen ist, wie Verhaltenswissenschaftler hinreichend erforscht haben, eine gewisse Verlustaversion eigen. Sie bewerten Verluste höher als Gewinne. Genau diese unterschiedliche Gewichtung trägt ihre Asymmetrie in das Spiel mit den Untergangsprognosen. Mehr noch: Sie macht sie geradezu attraktiv. Bleibt nämlich der Sturm aus oder verliert er an Stärke, werden die bedrückenden Vorhersagen nicht als Fehlprognose abgespeichert, sondern alsbald vergessen. Aus individueller Sicht der Warnenden ist Warnen demnach ohne Risiko. Sind nun aber genügend Pessimisten beisammen, können sie diese Krisen eben auch beschwören oder verschärfen mit dem verheerenden Effekt, dass die Warner recht behielten, was freilich niemand anderem als ihnen selber nützt.

 

15. Oktober 2022

Gute-Rouladen-Gesetze

Wummern findet man und Wumme (feminin), nur Wumms steht definitiv nicht im Duden. Nun ist aber genau dieses Wumms-Wort in aller Munde, seit es – dank der Wortfindungskünste des Bundeskanzlers – zum Inbegriff geradezu ausufernder sozialdemokratischer Entlastungspolitik geworden ist.

Politikführung mit kurzen, kräftigen Ausdrücken, die Emotionen wecken und darüber etwas bewirken sollen, hat es immer gegeben. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hoffte, dass ein Ruck durchs Land gehen werde, und hat dem in seiner Ruck-Rede Ausdruck verliehen. Bundeskanzler Gerhard Schröder ging als Basta-Kanzler in die Geschichte ein, weil er mit dem italienischen Zweisilber im Jahr 2000 eine Debatte über die Einführung der Riester-Rente beenden wollte.

Scholz aber übertrifft sie alle. Schon als Finanzminister versuchte mit dem Wort Wumms in Verbindung mit üppigen Entlastungsmaßnahmen in der Pandemie bei der Bevölkerung zu punkten. Zuvor hatte er die Bazooka ausgepackt, um der Wirtschaft vor den Folgen des ersten Corona-Jahres mit Krediten in unbegrenzter Höhe zu helfen. Es werde nicht gekleckert, sondern geklotzt, versprach er kraftmeierisch. Inzwischen hat er den Doppel-Wumms verkündet und meint damit einen 200 Milliarden Euro teuren Schutzschild für Bevölkerung und Wirtschaft vor den explodierenden Gaspreisen. Im ersten Durchgang sollte Wumms eigentlich nur den durch staatliche Ausgabenfreude befeuerten Energielevel einer wirtschaftlichen Erholung nach der Pandemie beschreiben, hatte aber auch schon ein Preisschild: 170 Milliarden Euro.

Fangen wir aber noch einmal von vorne an: Wumms ist zunächst einmal ein Onomatopoetikum, ein lautmalerisches Wort der Comic-Diktion, das verwendet wird, wenn etwas explodiert oder eine Person zu Boden geht. Scholz also scheint an Emotionen gelegen, weniger dagegen an Genauigkeit. Das zeigt sich jetzt wieder: Für die Verteilung der mit dem Doppel-Wumms in Aussicht gestellten Milliarden hat er noch kein präzises Konzept. Ein Vorgehen übrigens, das jedes verantwortliche Politikhandeln auf den Kopf stellt. Inzwischen wissen wir immerhin, dass zunächst einmal der Staat alle Gasabschlagszahlungen des Monats Dezember übernimmt, bis dann im Frühjahr ein Mechanismus erarbeitet ist, nach dem das Geld verteilt werden soll, ob es nun im Einzelfall gebraucht wird oder nicht. Denn so unspezifisch wie das oder der Wumms ist die politische Maßnahme: Begünstigt wird nicht etwa nach Einkommens- und Vermögensverhältnissen, sondern so wie in früheren Wumms-Phasen jeder und jede, auch jene, die es nicht nötig haben. Emotion schlägt Präzision.

Zurück zum Begriff: Im europäischen Ausland wurde das Wort – glücklicherweise – bisher nicht übernommen. Man hatte bei der Hartnäckigkeit, mit der der Kanzler sich dieses Onomatopoetikums bedient, fast befürchten müssen, dass sich analog zur German Angst alsbald schon ein German Wumms seinen Weg in den angelsächsischen Sprachraum bahnt. Dass dem bisher nicht so ist, mag damit zusammenhängen, dass Angst ein fest definierter Begriff, Wumms dagegen erstens einer so ernsten Situation wie der energiepolitischen Lage vor allem Deutschlands nicht angemessen ist und zweitens in das Repertoire eines an der Sache und nicht an Effekten orientierten Bundeskanzlers garantiert nicht gehört.

Während die Politik mit ihrer Gaskommission noch am Konkreten bastelt, machen sich die ersten Händler das politische Neudeutsch bereits zunutze. Bei Möbel Höffner geht es – ähnlich pauschal wie in der Politik – mit Wumms in die Herbstsaison: „30 Prozent auf alles!“

 

1. Oktober 2022

Steuern zahlen und sterben

Die ersten Kommunen haben bereits kapituliert. Und sie werden nicht die letzten sein. Jüngst hat das thüringische Jena wissen lassen, dass es sich nicht in der Lage sieht, die Angaben zu den 7000 Flurstücken und mehr als 13000 Teilflächen fristgerecht zum 31. Oktober anzugeben, die nach dem neuen Grundsteuergesetz verlangt werden. Zu wenige Menschen haben die Grundsteuererklärung bisher eingereicht. Und es ist klar, dass auf die Ämter nun eine Datenwelle zurollt, die sie mit dem derzeitigen Mitarbeiterbestand nicht bewältigen können. So raubt die Reform nun nicht nur den großen und kleinen Immobilienbesitzern den Schlaf, sondern auch den Finanzbeamten.

Es sollen an dieser Stelle keine Überlegungen über Sinn oder Unsinn einer Grundsteuerreform angestellt werden, denn das Verfassungs­gerichts hat sein Urteil schon 2018 verkündet. Seit 2019 ist ein neues Gesetz in Kraft, auf dessen Basis die öffentliche Hand bis spätestens Anfang 2025 eine neue Grundsteuer erheben muss. Man könnte deshalb sagen: Da müssen nun mal alle durch.

Und doch seien zwei Anmerkungen erlaubt. Erstens: Mit der Art der Datenerhebung haben die Finanzämter ein neues Bürokratiemonster geschaffen. Es ist ja nicht so, dass Eigentümer – ähnlich leicht zugänglich wie beim Zensus – Adresse, Gemarkung, Flur, Flurstück und Bodenrichtwert in eine übersichtliche Tabelle eintragen müssten. Nein, man bekommt mit Elster.de eine Plattform dafür, die an Verbraucherfeindlichkeit kaum zu übertreffen ist. Für Laien ist die Systematik, nach der das Programm agiert und reagiert, nur schwer durchschaubar. Gelinde gesagt: Es ist eine Zumutung. Kein Wunder, dass so viele verzweifeln, vor allem, wenn sie sich keinen Steuerberater leisten können, der im Umgang mit der Eingabe von Steuerdaten versierter ist.

Nun rennen also Wohnungs- oder Hausbesitzer zum Finanzamt, um sich helfen zu lassen, wenn sie dort überhaupt noch einen Ansprechpartner finden, sehen sich YouTube-Tutorials an, versuchen, mit Chatbots zu kommunizieren, um aus dem Schlamassel herauszukommen, und haben derweil schlaflose Nächte, weil ihnen bis zu 25 000 Euro Strafe drohen, wenn sie bis Ende Oktober nicht liefern.

Viele Bürgerinnen und Bürger sind derart rechtsgläubig, dass ihnen zudem die Angst vor versehentlich falschen Angaben seit Wochen den Appetit verdirbt. Sie wissen ja: Unkenntnis schützt vor Strafe nicht. Und sie wissen auch, wie gnadenlos Finanzbehörden schon beim geringsten Versehen zuschlagen können.

Zweitens: Da befindet sich das Land in einer der schwierigsten Phasen der Nachkriegszeit, in der viele Bürgerinnen und Bürger genauso wie die Wirtschaft aufgrund von Inflation und Energiepreisexplosion, Verwerfungen in den Lieferketten und bevorstehender nächster Corona-Welle existentielle Sorgen plagen. Stattdessen aber sollen sie sich über die neue Erfassung ihrer Grundsteuerdaten beugen und Stunden an einem miserabel designten Internet-Tool verbringen.

Rechtsgläubigkeit ist ein hohes Gut. Und Deutschland ist ein sehr rechtsgläubiges Land. Diesen Kredit kann man politisch leicht verspielen. Die Politik sollte sich endlich überlegen, wie sie das Land entbürokratisiert, anstatt immer neue Verwaltungsmonster zu schaffen, die Wirtschaft und Gesellschaft gegen sie in Stellung bringen.

 

 

17. Juli 2022

Rohrkrepierer

Ende kommender Woche wird es ernst. Dann nämlich wird sich zeigen, ob die vorgeblich notwendige technische Wartung der Gaspipeline Nord Stream 1 nicht doch viel mehr eine politische ist, ob also Russland die Gaslieferungen bis auf weiteres tatsächlich einstellt. Über die wirtschaftlichen Folgen eines verlängerten russischen Gasembargos wird viel diskutiert. Sie werden in jedem Fall spürbar sein, wie heftig allerdings, das ist umstritten.

Vergleicht man den politischen Diskurs heute mit jenem zu Beginn des Krieges, als sich Deutschland noch souverän wähnte, über ein komplettes Einfuhrverbot von Öl und Gas aus Russland zu debattieren, so haben sich die Verhältnisse heute ins Gegenteil verkehrt. Putin hat Europa den Energiehebel längst entrissen, ist seinerseits mit einer drastischen Reduktion von Gaslieferungen in die Offensive gegangen und demonstriert dem Westen damit seine Überlegenheit. Er kann sich diese Aktion vor allem deshalb leisten, weil eine geschickte Verknappung der Liefermengen eine Preisexplosion zur Folge hatte und noch hat, die den Mengenrückgang überkompensiert. An diesen offensichtlichen Zusammenhang aber hatte hierzulande zu Beginn des Krieges kaum einer gedacht. Schon gar nicht hatte man erwartet, dass Russland zur Jahresmitte einen Haushaltsüberschuss aufweisen würde. Dass es sich aufgrund der Sanktionen derzeit an den internationalen Finanzmärkten kein Geld leihen kann, spürt das Land deshalb nicht. Mehr noch: Das von der EU beschlossene Ölembargo als Kernbestandteil des sechsten Sanktionspaketes beginnt erst Anfang des kommenden Jahres. Die Erwartungen aber haben die Preise längst in die Höhe getrieben. Somit wirkt diese Sanktionsmaßnahme bisher kontraproduktiv und trägt ihrerseits zur derzeitigen Devisenschwemme Russlands und zur desolaten Energieversorgungslage hierzulande bei.

Die Absurdität der Situation ist kaum zu überbieten: Vor allem Deutschland ächzt unter den hohen Energiepreisen und finanziert über just diese Entwicklung den Krieg erheblich mit. Das ist die erste bittere Lektion.

Die zweite Lektion ist grundsätzlicher Natur: Zwar kann Russland mit den Devisen zumindest in der westlichen Welt derzeit nicht viel anfangen. Denn es gibt ja noch fünf weitere Sanktionspakete. Doch haben auch diese ihre Wirkung bisher komplett verfehlt. In Moskau sieht man kaum leere Regale. Und der Lebensstandard des Gros der russischen Bevölkerung ist zu niedrig, als dass Sanktionen diesen stark beeinträchtigen würden. So muss Europa schmerzhaft lernen, wie wenig wirksam wirtschaftliche Sanktionen tatsächlich sind.

Das wiederum ist alles andere als neu. Wissenschaftliche Analysen ökonomischer Auswirkungen von Sanktionen im Laufe der Geschichte bis hin zur Annexion der Krim 2014 förderten bisher ausschließlich Ernüchterndes zu Tage: Derartige Maßnahmen sind nicht nur wirkungslos, sondern erzeugen beim Gegenüber darüber hinaus auch noch eine Art Wagenburgmentalität. Bedrückend und tragisch ist das alles, denn so wie es aussieht, trägt der Westen trotz aller verzweifelter Bemühungen, Russland unter Druck zu setzen, eher dazu bei, dass Putin seinen grauenvollen Angriffskrieg noch lange führen kann.

 

 

3. Juli 2022

 

Koste es, was es wolle

In diesem Monat wird die Europäische Notenbank die Zinsen erhöhen – erstmals seit elf Jahren. Inzwischen hat sie auch die milliarden­schweren Anleihekäufe eingestellt, über die sie in der vergangenen Dekade Unsummen in den Markt hat fließen lassen. Die ungewohnt hohen Inflationsraten zwingen sie ebenso zum Handeln wie das beherzte Vorgehen der amerikanischen Notenbank oder der Schweizer Schwesterinstitution.

Was mit der Finanzkrise von 2008, der Staatsschuldenkrise und schließlich der Pandemie als Notfallmodus gerechtfertigt wurde, war zum Dauerzustand geworden, zu einer merkwürdigen Normalität ohne Zins und damit ohne die zentrale Steuerungsgröße einer Marktwirtschaft, die der Zins nun einmal ist. Mit den bevorstehenden Zinserhöhungen ist diese Phase – endlich – Geschichte.

An den Aktien- und Immobilienmärkten mag man Zinserhöhungen nicht. So ist die Verunsicherung derzeit groß und die EZB nicht zu beneiden. Es besteht die Gefahr, dass sie mit ihren geplanten Zinsschritten eine neue Staatsschuldenkrise in Gang setzt, zumindest eine in der Südhälfte der Währungsunion. Könnte es also sein, dass wir in den nächsten Jahren nur noch spärliche Renditen sehen?

Hinter dem großen Unbehagen der Märkte ob einer Zinserhöhung, die eigentlich nichts anderes als die längst überfällige Rückkehr zu vernünftigen volkswirtschaftlichen Verhältnissen ist, verbirgt sich deutlich mehr als nur die Sorge um die sinkende Attraktivität bestimmter Anlageklassen oder die Entstehung einer neuen Krise. Die Marktteilnehmer müssen diesen Schritt vielmehr als endgültige Rücknahme einer nie dagewesenen geldpolitischen Zusage deuten, die sie seit zehn Jahren in Sicherheit gewogen hat.

Am 26. Juli 2012 hielt der damalige EZB-Präsident Mario Draghi auf dem Höhepunkt der Staatsschuldenkrise eine bemerkenswerte Rede, die die Risikoverhältnisse an den Kapitalmärkten auf den Kopf stellten: „Within our mandate, the ECB is ready to do ‚whatever it takes‘ to preserve the Euro. And believe me, it will be enough.” Mit anderen Worten: Die EZB versicherte den Marktteilnehmern ihre Bereitschaft, den Zusammenhalt der Eurozone zu garantieren, koste es, was es wolle.

Bedingungslos verbürgte sie sich damit für die Stabilität an den Finanzmärkten und machte mit dieser Risikoübernahme die Rallye der Folgejahre überhaupt erst möglich. Im Fachjargon würde man so etwas einen Zentralbank-Put nennen, in Anlehnung an den „Greenspan-Put“, eine seinerzeit durch Studien bestätigte Vermutung, dass die amerikanische Zentralbank unter ihrem Präsidenten Alan Greenspan in Phasen schwacher Aktienmärkte die Kurse immer wieder heimlich stütze. Als „Puts“ werden in der Regel Termingeschäfte bezeichnet, mit denen sich die Marktteilnehmer gegen Kursverluste absichern. Draghi ging da offenkundiger zu Werke: „Whatever it takes“ – mit diesen Worten nahm er das Marktrisiko kurzerhand in die Bücher der Zentralbank.

Die eigentliche Wucht der nun angekündigten Zinswende liegt genau dort: in der Rückgabe des Risikos an die Märkte. Die Aufkündigung dieser zehn Jahre währenden Versicherungszusage ist schmerzhaft und doch überfällig – nicht aufgrund der verstörend hohen Inflation, sondern weil Volkswirtschaften ohne die Signalfunktion des Zinses langfristig nicht effizient funktionieren können.

 

19. Juni 2022

 

Ohne Narrativ

Macht ist gefühlt ein hässliches Wort. Denn es impliziert, kaum dass man es in den Mund genommen hat, seinen Missbrauch, individuell oder systemisch. Dabei ist Macht per se weder gut noch schlecht. Gesellschaftlich ist sie in jedem Falle konstitutiv.

Derzeit beschäftigt uns eine ganze Reihe von Staatschefs, die ihre Macht aus der Sicht freiheitlicher Demokratien schwer missbrauchen, der eigenen Bevölkerung Freiheitsrechte entziehen, sie unterdrücken, ausbeuten oder auf ihre Kosten gar Kriege führen. Gesellschafts­pessimisten würden sogar behaupten, es seien derer mehr geworden in den vergangenen ein oder zwei Dekaden.

Das kurze Wort Macht hat allerdings auch deshalb eine negative Konnotation, weil ihr Gegenteil, die Ohnmacht, stets mitgedacht wird, die sich derzeit vor allem gegenüber Autokraten oder gar Diktatoren bedrückend aufdrängt.

Vor einigen Wochen ist zum Thema „Macht“ unter dem Titel Power for All ein bemerkenswertes Buch erschienen. Die Wissenschaftlerinnen Julie Battilana (Harvard) und Tiziana Casciaro (Toronto) definieren darin Macht als die Fähigkeit, das Verhalten anderer durch Zwang oder Überzeugung zu beeinflussen.

Dass sie damit einen originellen Blick jenseits aller bekannten Gender-Diskussionen auf ein großes Thema wagen, sei nur am Rande erwähnt. Interessant sind vor allem zwei ihrer Hypothesen, die das Beharrungsvermögen der Macht erklären und damit die so nahe liegende Frage beantworten helfen, die unlängst sogar schon US-Präsident Joe Biden öffentlich bewegt hat: Warum nur tut sich ein Volk so schwer, sich seiner Unterdrücker zu entledigen?

Zunächst setzen Battilana und Casciaro bei den Trugschlüssen an, denen Individuen gemeinhin in Bezug auf die Macht unterliegen. Drei wissenschaftlich nachweisbare und sehr plausible seien hier genannt: Menschen glauben erstens mehrheitlich fest daran, dass Macht etwas ist, das man dauerhaft besitzt. Sie sind ferner davon überzeugt, dass man für Macht besondere Eigenschaften braucht. Und sie meinen drittens, dass Macht an bestimmte herausgehobene Positionen gebunden ist. Die Wirkung dieser Fehlannahmen auf ein Kollektiv kann verheerend sein. Sie vereitelt die Erkennung von Machtmissbrauch und damit letztlich den Kampf dagegen.

Dazu arbeiten die Machthabenden aktiv an ihrem Machterhalt, mitunter unbewusst, durch den Ausschluss von Empathie, ein übersteigertes Gefühl der Handlungsfähigkeit sowie durch Selbstlegitimation. In all dem werden sie ausgerechnet von den Machtlosen toleriert. Trugschlüsse sind nun mal sehr wirkmächtig.

Eine entscheidende Rolle – und das wäre der zweite Ansatz der Forscherinnen – spielen zudem die Narrative der Machthaber: „Geschichten zählen zu den effektivsten Mitteln, um andere zu überzeugen, weil sie nicht nur an unseren Verstand appellieren, sondern auch an unsere Gefühle.“ Je plausibler diese, desto größer das Beharrungsvermögen der Macht. Die Autokraten Putin etwa, Erdoğan, Xi Jinping oder der iranische Religionsführer Ali Chamenei haben sich eben auch als große Geschichtenerzähler erwiesen, deren Narrative sogar bei denen verfangen, von denen man erwarten würde, dass sie es eigentlich besser wüssten.

 

5. Juni 2022

 

Supersparpreise

Preise haben mehrere Funktionen. Eine ist die der Information über die Knappheitsverhältnisse in der Güterwelt. Derzeit steigen die Preise – nach dem Warenkorb des Statistischen Bundesamtes im Mai auf Jahresbasis um 7,9 Prozent. Das ist zugegebenermaßen heftig. Für den Schub ist allerdings weniger eine generelle Güter- oder gar Lebensmittelknappheit oder die überbordende Liquidität verantwortlich, die die Notenbanken weltweit seit Jahren über die Volkswirtschaften ergießen, als vielmehr eine Reihe an Ereignissen, die von Ökonomen als „exogene Schocks“ bezeichnet werden: die Pandemie, die dadurch gestörten Lieferketten, der Mega-Lockdown in Shanghai, der die Lieferkrise verschärft, und natürlich der russische Krieg gegen die Ukraine. So viel krisenhafte Zuspitzung war Jahrzehnte nicht. Natürlich sind dadurch die Energiepreise drastisch gestiegen. Sie treiben die Produktions- und Transportkosten vor sich her. Und die Erwartung weiterer Engpässe befeuert die Entwicklung noch.

Nach volkswirtschaftlicher Lehrbuchlogik würden in normalen Zeiten gestiegene Preise für Produzenten Anreize schaffen, ihr Angebot auszuweiten. Aber normal sind diese Zeiten nun mal nicht, was die einzelwirtschaftlichen Reaktionsmöglichkeiten eng begrenzt.

Die Politik hat inzwischen reagiert – mit „Entlastungspaketen“, so wie es seit Beginn der Pandemie nun mal Usus ist: 9-Euro-Ticket, Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe, 300 Euro Energiepreispauschale, Erhöhung der Pendlerpauschale, Absenkung der EEG-Umlage und jetzt nach den Vorstellungen des Sozialministers Hubertus Heil auch noch ein soziales „Klimageld“ für alle mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von bis zu 4000, bei Paaren bis zu 8000 (sic!) Euro.

Dass der Sozialminister seinen geplanten zusätzlichen Geldregen nun ausgerechnet „Klimageld“ nennt, nur weil damit den vor allem von den Energiepreissteigerungen und ihren Folgewirkungen belasteten Haushalten Erleichterung verschafft werden soll, ist mehr als erklärungsbedürftig. Denn dieses Klimageld hilft dem Klima gerade nicht. Es hebelt die Wirkungen des klimapolitisch so ungemein wichtigen Informationssignals aus, das von den erhöhten Energiepreisen ausgeht. Mehr noch, es konterkariert sie geradezu, was angesichts der desaströsen CO2-Bilanz hierzulande der Heil’schen Diktion einen fast zynischen Beigeschmack verleiht. Denn hohe Energiepreise – auf was immer sie derzeit zurückzuführen sind – signalisieren den Haushalten eigentlich vor allem eines: dass sie sich endlich ernsthaft Gedanken machen müssten über das Energie- und damit CO2-Sparen, von Oktober an womöglich weniger heizen, weniger Autofahren und wenn doch, dann nicht so schnell und schon gar nicht allein im Wagen. Was also den Minister auf die Bezeichnung „Klimageld“ gebracht hat, mit dem Otto-Normalverdienenden bei unerbittlich fortschreitender Erderwärmung ein umweltschädigendes Weiter-So ohne klimapolitische Rücksichtnahme ermöglicht werden soll, weiß der Himmel. Der Name ist mindestens so verlogen wie das Versprechen dahinter. Dass nämlich der Staat dafür da ist, seine Bürger jenseits der Absicherung der großen Lebensrisiken vor allem zu schützen, was ihnen ins Portemonnaie greift, so, als wäre die Welt nicht längst eine andere geworden.

22. Mai 2022

Auf Zweihundertachtzig

Die Volten des Turbo-Entrepreneurs Elon Musk sind zunehmend enervierend. Und das vor allem, weil sie über seine Tweets binnen Sekunden Milliarden schaffen oder vernichten. Wahrscheinlich gerade so, wie es dem derzeit reichsten Mann der Welt in sein betriebswirtschaftliches Kalkül passt. Man denke nur an seine Bitcoin-Einlassungen, die den Kurs der Kryptowährung regelmäßig nach oben oder nach unten jagen. Zuletzt wurde Twitter selbst zum Spielball seiner Launen. Zunächst der heimliche Ankauf von Aktien, dann ein Übernahmeangebot für 44 Milliarden Dollar, was dem Herrn inzwischen aber zu hoch erscheint. Mit einem weiteren Tweet schickte er die Aktie auf Talfahrt, um nun ein niedrigeres Angebot anzukündigen. Funktioniert doch!

Mit Twitter lassen sich nicht nur Kurse bewegen, sondern auch die Politik. Trumps Tweets gelangten zu weltpolitischer Bedeutung – logischerweise: Vier Jahre konnte er aus dem Weißen Haus, aber jenseits aller konventionellen Bahnen präsidialer Verlautbarungen stets das kommunizieren, was ihm seine Launen täglich so eingaben.

Die Wirkungsmacht von Twitter erstaunt, denn von der reinen Zahlenlage her nimmt sich die Kommunikationsplattform dürftig aus. Nur knapp 230 Millionen aktive Nutzer verwenden Twitter weltweit. Auf Instagram dagegen tummeln sich 1,2 Milliarden, auf Facebook täglich fast 2 Milliarden. Dazu ein Betriebsverlust von 493 Millionen Dollar im vergangenen Jahr. Worin also liegt die Macht von Twitter?

Am ehesten wohl darin, dass man sich auf Twitter nicht herumtreiben muss, um zu wissen, was dort los ist. Das besorgen die traditionellen Medien, Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Sie nehmen von den prominenten Usern binnen kürzester Zeit alles auf, was diese mittels 280 Zeichen absondern. Bei Trump oder Musk bleibt den konventionellen Medien auch gar nichts anderes übrig, weil beide nicht unbedingt traditionell kommunizieren, sondern sich die Deutungshoheit über ihr Tun und Handeln – dank Twitter – erhalten wollen. Twitter also hat medial höchst willfährige Verstärker. Das mag daran liegen, dass sich vor allem die Macht- und Meinungselite weltweit der Tweets bedient.

Und auch das hat einen Grund. Nach dem Prinzip der Würze in der Kürze kommen Tweets ihren Emittenten und Adressaten gleichermaßen entgegen, was an dieser Stelle anerkennend dem kongenialen Einfall des Plattform-Erfinders zuzuschreiben ist. Man muss nicht viel reden und erst recht nicht viel lesen. Man twittert, was man gerade denkt, oder erweckt zumindest den Eindruck der Spontanität, die sich bei der Verfolgung strategischer Ziele bestens für deren Verbrämung eignet. Spontan ist dann gar nichts mehr. Bei Trump schien das zwar kaum je der Fall, bei Musk dagegen umso mehr.

Genau das allerdings könnte irgendwann die Nutzer verprellen, die das Twitter-Spiel nicht als Macht-Tool missbraucht wissen wollen. Vor allem dann nicht, wenn der ach so liberale, selbst ernannte Verfechter der Meinungsfreiheit den Dienst übernimmt und ganz allein das Sagen hat. Wie lange die 230 Millionen User Twitter die Treue halten, kann auch ein Musk nicht wissen. Seine letzte Volte deutet darauf hin, dass er genau das begriffen haben könnte.

 

8. Mai 2022

 

Affig

Affen sind nicht unbedingt schöne, aber hochinteressante Tiere. Was allerdings derart viele Menschen ausgerechnet an gelangweilten Affen (Bored Apes) so sehr fasziniert, dass sie dafür sechsstellige Summen bezahlen, würde man schon gerne wissen. Immerhin geht es dort nicht um Lebewesen, sondern um NFTs, Non Fungible Tokens, zu Deutsch „nicht austauschbare Tokens“, worunter im gemeinen Sprachgebrauch digitale Sammelobjekte verstanden werden, die die zunehmend tech-affine Welt gerne als Kunstwerke bezeichnet. Präziser wäre es, diese Token als Zertifikate zu beschrieben, die Eigentumsrechte an bestimmten digitalen Objekten „verbriefen“: an Profil-Karikaturen gelangweilter Affen zum Beispiel. Binnen kürzester Zeit ist für diese Sammelobjekte ein großer Markt entstanden, der bereits Millionäre hervorgebracht und im Fall der Affen alles hat, was einen Hype ausmacht: die Plattformen, ein innovatives Merchandising einschließlich exklusiver Club-Mitgliedschaft, Fachleute, die die vermeintlich überfällige Disruption des Kunstmarktes bejubeln, und vor allem rasant steigende Preise. Für die Affen etwa wurde Anfang der Woche eine Preisuntergrenze von 149,5 Ether ermittelt, derzeit gut 420 000 Dollar.

Die Erfindung dieses Marktes stammt, wie sollte es anders sein, aus den Vereinigten Staaten, wo Geld für jede Merkwürdigkeit zu haben ist, solange sich daraus nur noch mehr Geld machen lässt. Verwunderlich ist allerdings die Konstruktion, die wohl nur von Digital Natives verstanden und geschätzt werden kann. Der Käufer sichert sich mit seiner Investition lediglich das Eigentumsrecht an dem virtuellen Kunstwerk, das er dann auf dem Handy immer bei sich tragen kann. Exklusivität als Betrachter genießt er indes nicht. Denn das Opus kann als JPEG auch von anderen heruntergeladen werden. Womit sich die Frage stellt, warum Menschen gleichwohl bereit sind, dafür immer mehr Geld auszugeben.

Dabei kommt entweder die verständliche Lust an der Spekulation ins Spiel oder die Psychologie des Besitzens. Dass einem etwas gehört, ist für viele Menschen wichtig. Dass sich mit Besitztum darüber hinaus die Ostentation des eigenen Wohlstands verbindet, die unter dem Deckmantel der Kunst oder Liebhaberei nicht einmal anstößig ist, mag ebenso eine Rolle spielen. Verhaltensökomisch betrachtet steigert die Inbesitznahme eines Objekts dessen Wert für den Besitzer, ein Phänomen, das der amerikanische Ökonom Richard Thaler einst als „Endowment-Effekt“ erforschte. Psychologen wissen: Binnen Sekunden entwickelt der Käufer zu dem erstandenen Gut eine emotionale Bindung. Neurowissenschaftler würden in dem Fall von einem Dopamin-Bad sprechen, in das das Gehirn im Moment des Erwerbs getaucht wird und den frisch gebackenen NTF-Eigentümer die Downside der ganzen Sache schnell vergessen lässt: die nämlich, dass er aus Gründen der Verlustaversion den Wert seiner Objekte überschätzt. Und dass er deshalb in der Regel länger an ihnen festhält als sinnvoll. Im Falle der Bored Apes könnte sich das Glück also bald ins Gegenteil verkehren, wenn einem das Tier so sehr ans Herz wächst, dass man das Momentum verpasst, aus dem Markt auszusteigen, weil entweder die Krypto-Währung Ether, mit der man bezahlt hat, oder gar der Affe plötzlich wieder aus der Mode sind.

 

24. April 2022

Habitus

Dieser Sonntag wird spannend – nicht nur für Frankreich, auch für Europa: Emmanuel Macron gegen Marine Le Pen. Denkbar knapp könnte es ausgehen. Hoffentlich wird der alte Präsident auch der neue sein. Eine derzeit in Schäfchenwolle gehüllte rechtsextreme Präsidentin kann hierzulande für Frankreich oder Europa niemand wollen. Bedauerlicherweise ist Emmanuel Macron ungeachtet eines gewissen Präsidentenbonus’, der ihm eigentlich zugutekommen müsste, in Frankreich nicht sonderlich beliebt.

Die Erklärungsmuster für die Ablehnung, die ihm aus der Bevölkerung entgegenschlägt, muten aus deutscher Sicht unbefriedigend an, kann Macron doch enorme wirtschaftliche und sozialpolitische Erfolge aufweisen, darunter deutlich verbesserte Bildungschancen, eine beträchtliche Senkung der Jugendarbeitslosigkeit und ein sehr kräftiges Wirtschaftswachstum. Tatsächlich hat er die Republik „en marche“ gesetzt. Doch zollen ihm dafür nur wenige Respekt. Warum?

In Frankreich verlaufen gesellschaftliche Trennungslinien anders als in Deutschland. Da ist nicht nur der altbekannte Stadt-Land-Konflikt eines zentralisierten Staates. Da ist auch etwas, das in die Kategorie Habitus fällt und in einem teils noch elitär geprägten Land dem Gros der Bevölkerung womöglich viel stärker als hierzulande aufstößt.

Man hätte sich gewünscht, Macron hätte sich vor ein paar Monaten das Werk La Distinction. Critique sociale du jugement (zu Deutsch: Der feine Unterschied) des berühmten französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) vorgenommen. Die gesellschaftskritische Studie ist zwar bereits 1979 erschienen, deshalb allerdings keinesfalls inaktuell. Im Gegenteil. Bourdieu definiert die sozialen Unterschiede wesentlich differenzierter als lediglich entlang der üblichen Spaltungslinie von Arbeit und Kapital, Arm und Reich, Haben und Nicht-Haben. Seiner Meinung nach gibt es neben dem ökonomischen Kapital noch drei weitere Vermögensarten: eine kulturelle, eine soziale und eine symbolische. Bourdieu spricht vom Habitus und damit von der Summe dessen, was Menschen von anderen unterscheidet: der Geschmack, die Art, sich zu kleiden, sich zu bewegen, zu gestikulieren, zu reden – die Entäußerung der Herkunft also, die soziale DNA, die sich niemals verleugnen lasse. Dieser Habitus prägt nicht nur die sozialen Beziehungen, sondern markiert auch die Distanz zu denen, die wiederum einen ganz anderen Habitus pflegen und ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit darüber zum Ausdruck bringen.

Macrons Habitus ist nicht volksnah, sondern elitär. Er würde – nach Bourdieu – auch niemals volksnah werden können. Nur: Hätten Macron und seine Berater „La Distinction“ vor ein paar Monaten aufgeschlagen, hätten sie sich womöglich etwas einfallen lassen, das die mangelnde Volksnähe kompensiert. Sie wären sicher deutlich früher und anders in den Wahlkampf eingestiegen. Dafür aber ist es jetzt zu spät. Die Wahl läuft Gefahr, den französischen Soziologen posthum zu bestätigen. Dass nämlich zu viele Wählerinnen und Wähler fernab jeglicher sozial- und wirtschaftspolitischer Vernunft allein aufgrund des Habitus ihres Präsidenten zu dem Schluss kommen: Der ist nicht von uns und auch nichts für uns.

 

 

 

10. April 2022

Elementarteilichen

Acht Tage vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine haben die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages jenseits öffentlicher Aufmerksamkeit eine hochinteressante Ausarbeitung mit geradezu bedrückendem Ausblick veröffentlicht. Sie ist mit „Seltene Erden als wichtige Ressource“ überschrieben.

Als Seltene Erden werden die 14 Elemente der Lanthanoide sowie Yttrium bezeichnet, die nicht nur für die deutsche Wirtschaft längst unverzichtbar sind. Die Medizintechnik und die Automobilindustrie sind auf sie angewiesen, ebenso die Unterhaltungselektronik, Computer- und Batteriehersteller, darüber hinaus in bedenklich hohem Maße die Rüstungsindustrie. Sogar dem Benzin werden seltene Erden beigemischt. Kurz: Es ist heutzutage unmöglich, ein Stück moderner Technologie zu nutzen, das keine seltenen Erden enthält.

Die Vorkommen an Seltenen Erden überall auf dem Globus sind reichlich. Nur hat sich der Studie zufolge die Welt fast vollständig in die Abhängigkeit Chinas begeben. Der Abbau ist dreckig und umweltschädlich. Damit wollte der moderne Westen nichts zu tun haben. Sogar die auf ihre Unabhängigkeit stets bedachten Vereinigten Staaten, die bis in die 1960er-Jahre hinein die Elemente noch selbst geschürft haben, verlassen sich auf China. Doch erledigt China bisher nicht nur den dreckigen Abbau, sondern auch die Verarbeitung der Elemente. Dort liegt der chinesische Marktanteil nach Aussagen der Wissenschaftlichen Dienste bei 90 Prozent.

Man kann diese Marktmacht auch anders beschreiben: Wenn China die Lieferung von Seltenen Erden nach Europa oder in die Vereinigten Staaten einstellt, dann stehen diesseits wie jenseits des Atlantiks die Produktionsbänder ganzer Industriezweige still. Im Handelskonflikt mit Amerika hat das Land der Mitte genau damit mehrfach gedroht.

Vor dem Hintergrund der russischen Invasion in die Ukraine und der Unfähigkeit Europas, aufgrund seiner Abhängigkeit von russischen Rohstofflieferungen mit einem Öl- und Gasembargo zu reagieren, nimmt sich auch die Sache mit den Seltenen Erden bedenklich aus. Zum Beispiel: Erklärtes Ziel Chinas ist die Wiedervereinigung mit dem inzwischen freiheitlich-demokratischen Taiwan – notfalls mit Waffengewalt. Wie sollte der Westen in so einem Fall reagieren, wo er doch China die Hebel in die Hand gegeben hat, Teile seiner Volkswirtschaften lahmzulegen?

Immerhin versucht Europa seit einiger Zeit, eine eigene Rohstoffproduktion aufzubauen. Im September 2020 hat sich eine von der Industrie geleitete Europäische Rohstoffallianz (European Raw Material Alliance, ERMA) konstituiert, um die Unabhängigkeit Europas voranzutreiben. 2030 könnte Europa in der Lage sein, ein Fünftel des Bedarfs an Seltenen Erden selbst zu decken. Bis 2040 ließe sich das Recycling der Rohstoffe kostendeckend organisieren.

Niemand weiß, wie Kriege ausgehen und welche internationalen Konflikte noch folgen werden. Nur eines weiß man: dass angesichts diktatorischer Kreml-Willkür die Rohstoffabhängigkeit der westlichen Welt von totalitären Regimen völlig neu bewertet werden muss.

 

 

27. März 2022

Langer Marsch

Ziemlich genau vor einem Jahr erschien in Deutschland ein Sachbuch, dessen Vorhersagen in ihrer Radikalität zwar einleuchtend, von der Alltagswirklichkeit seinerzeit allerdings weit entfernt waren. Geschrieben wurde es von dem indisch-amerikanischen Politik­wissenschaftler Parag Khanna (Jahrgang 1977), einem Tausendsassa der internationalen Gelehrtenszene mit eigener Denkfabrik (FutureMap). Das Buch mit dem Titel Move. Das Zeitalter der Migration erregte Aufmerksamkeit. Gleichwohl war das Thema seinerzeit nicht gerade en vogue. Im Gegenteil: Deutschland hatte die Flüchtlingsströme des Syrienkrieges weitgehend verdaut, etwa die Hälfte der Migranten in Beschäftigung gebracht und die schulpflichtigen Kinder integriert. Dazu zwang Corona die Welt in den Stillstand.

Zwölf Monate nach Erscheinen dieses Buches aber sieht alles sehr anders aus, vor allem in Europa. Move – Europa ist in Bewegung. Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Wladimir Putin, der einen unerträglich grausamen Krieg gegen die Ukrainer und auch gegen seine eigenen Landsleute führt. Bisher sind rund 3,5 Millionen Ukrainer nach Westen geflohen – auf unbestimmte Zeit, manche wohl für immer. Fachleute schätzen, dass es acht oder gar zehn Millionen werden könnten, ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung. Und plötzlich ist Khannas Buch aus einem Grund aktuell, den er so nicht vorhersehen konnte.

Seine Kernthese aber bleibt davon unberührt: Migration wird die geographischen Kraftfelder dieser Welt verändern. Und zwar in bisher nie gekanntem Ausmaß. Dass die Treiber der von ihm erwarteten gewaltigen Migrationsströme nicht unbedingt Kriege sein werden, sondern vor allem die Folgen des Klimawandels sowie demographische und technologische Entwicklungen, kann man in diesen Tagen nur hoffen. Dass Wanderungsbewegungen Staaten herausfordern, jene voranbringen, die sie zulassen und sich um Integration bemühen, während sie solche zurückwerfen, die sich den Fremden verschließen, wird man aber schon in ein paar Jahren in Ansätzen nachvollziehen können.

Denn die Flüchtlingsströme aus der Ukraine in die EU, die derzeit noch nicht einmal zu einem Zehntel ihres Gesamtumfangs in Deutschland ankommen, werden die Gesellschaften der EU-Mitgliedsländer verändern. Sie werden wohl auch das gesamteuropäische Gefüge nicht unberührt lassen. Dass der Zustrom derzeit mit Wucht vor allem jene europäischen Staaten trifft, die sich der Flüchtlingsaufnahme 2015 verweigerten, ist dabei nur ein Nebenaspekt. Auch ihre Prosperität wird vom Umgang mit der aktuellen Migrationsbewegung abhängen.

„Revolutionäre Momente wirken sich über Jahrzehnte hinweg aus“, schreibt Khanna. „Die Geschichte ist voller seismischer, weltweiter Störungen: Pandemien und Seuchen, Kriege und Völkermorde, Hungersnöte und Vulkanausbrüche. Und immer wieder nach großen Katastrophen zwingt uns unser Überlebensinstinkt, den Ort zu wechseln.“

Khannas Buch blickt bis 2050 und damit weit in die Zukunft. Der Autor sieht nur eine Antwort auf das Wechselspiel zwischen Kriegen, Unruhen, Wirtschaftskrisen, technologischen Innovationen und dem Klimawandel: die Mobilität. Seit nunmehr vier Wochen scheint es, als würfe ein nicht für möglich gehaltener Krieg im Osten Europas seine Schatten auf diese Entwicklung voraus.

 

 

 

13. März 2022

 

Was wollt Ihr mit dem Dolche, sprecht!

In Zeiten des Krieges drängen sich Gedanken auf, die sich aus zivilisatorischen Gründen schlicht verbieten. Ein solcher Gedanke ist der Tyrannenmord – ein ethisch ebenso fragwürdiger wie naiver Wunsch, der sich im aktuellen Fall so formulieren ließe: Können sich die Russen ihres kriegstreibenden Staatschefs nicht entledigen und zum Frieden zurückkehren? So werden viele schon gedacht, im Privaten diesen Gedanken sicher auch geäußert haben. Unlängst tat genau dies der US-Senator Lindsey Graham, allerdings öffentlich: „Gibt es keinen Brutus in Russland?“ Er erntete einen Shitstorm. Und ja: Wie die Russen mit ihrem Staatschef und seinem Machtmissbrauch umgehen, ist kein amerikanisches Problem.

Tyrannenmord ist in der Tat die Ultima Ratio, deren Rechtmäßigkeit schon in der Antike heftige Debatten auslöste. 514 v. Chr. verübten Harmodios und Aristogeiton einen Anschlag auf die Tyrannenbrüder Hippias und Hipparchos. Sie ermordeten Letzteren, Hippias indes entging ihnen und wurde alsbald von spartanischen Truppen verjagt. Wenige Jahre später gelangte die Demokratie in Athen zur Blüte. Der berühmteste, gleichwohl fragwürdige Tyrannenmord ereignete sich am 15. März 44 v. Chr. an Julius Caesar – allerdings in Uneinigkeit darüber, ob der Feldherr, der sich ein Jahr vor seiner Ermordung zum Diktator hatte ausrufen lassen, überhaupt Tyrann gewesen sei.

Unvergessen der Sturz des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu im Dezember 1989 durch ein erbostes Volk, das gegen die grausige Unterdrückung und unerträgliche Verelendung aufbegehrte. Damals konnte es den Rumänen gar nicht schnell genug gehen. Drei Tage nach seiner Verhaftung wurden er und seine Frau hingerichtet.

Heftig debattiert wurde 1999 in der westlichen Welt nach sechs Wochen Kosovo-Krieg die Frage nach der Berechtigung der Nato-Bomben auf Slobodan Milošević und damit des extern induzierten Tyrannenmords – in einem Betrag der ARD-Sendung Panorama. Es gab genügend Stimmen dafür.

Hinter den Debatten steht die seit mehr als zwei Jahrtausenden ungelöste Frage: Ist die Ermordung eines Menschen sozialethisch zu rechtfertigen, wenn das Unheil, das er anrichtet, nur groß genug ist? Auf Basis der deutschen Verfassung ließe sich ein Tyrannenmord durch das Widerstandsrechts einer unterdrückten Bevölkerung legitimieren. Doch auch das ist umstritten.

Und trotzdem sollte Politik ehrlich bleiben: Wenn man die sich bereits jetzt abzeichnenden Wirkungen der in der neueren Geschichte wohl einzigartig harten Sanktionen als Reaktion auf den Aggressionskrieg Putins in die Zukunft extrapoliert, muss man den Tyrannenmord wohl mitdenken. Das vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnittene Land könnte in wenigen Wochen bankrott sein, die Bevölkerung dürfte ihren Wohlstand, die Oligarchen einen Großteil ihres Reichtums und ihre Bewegungsfreiheit einbüßen. Arbeitslosigkeit und Verarmung könnten folgen. Ob die Russen das ohne Widerstand hinnehmen werden?

Weil Wladimir Putin ohne Gesichtsverlust aus diesem Krieg nicht mehr aussteigen kann, ist klar, dass die Sanktionen, so wie sie angelegt sind, auf seinen Sturz abzielen. Vielleicht kommt es dazu. Wer weiß, was dann mit ihm geschieht.

27. Februar 2022 

Ausgedient

In Kolumnen sollte man nicht unbedingt persönlich werden. Doch an dieser Stelle geht es um das persönliche Verhältnis der Autorin zu Polizistinnen und Polizisten, zur personifizierten Exekutivgewalt also, so wie man ihr auf den Straßen immer wieder begegnet. Die Mehrheit der Begegnungen ist unangenehm. Schließlich hat die Autorin etwas falsch gemacht. In einer 30er-Zone ist sie 36 gefahren und wird angehalten, wegen eines flackernden Fahrradrücklichts muss sie absteigen, wird bestenfalls im Obrigkeitston belehrt und merkt: In solchen Momenten spricht kein Mensch zum Menschen, es spricht die Staatsgewalt in Offensivhaltung zu einer Delinquentin. Mehr noch: Das Polizeipersonal, das in solchen banalen Fällen der Ordnungs­widrigkeiten vor einem steht, ist in der Übermacht, so oder so bewaffnet und mit Schutzwesten versehen. War das eigentlich immer so?

Persönliche Erfahrungen sind zugegebenermaßen anekdotischer Natur und wären der Autorin nicht der Erwähnung wert, hätten unlängst nicht zwei Texte ihre Aufmerksamkeit just auf dieses Thema gelenkt. Beim ersten handelt es sich um einen klugen Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, mit dem der nach 44 Dienstjahren pensionierte Polizeibeamte Michael Schütte aus Hannover seine Sorge auf den Punkt bringt: „Das Leitbild und die Idee einer zivilen Bürgerpolizei haben offenbar ausgedient“, schreibt er. „Tatsächlich ist die Polizeiarbeit heute zunehmend autoritär angelegt.“ Habitus, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Polizei orientierten sich immer mehr an militärischer Logik.

Der zweite Text ist das just erschienene, sehr lesenswerte Buch „Ich kämpfe für eine bessere Polizei“ von Kriminalhauptkommissar Oliver von Dobrowolski, ein Debattenbeitrag, dessen Autor – noch mit Begeisterung im Dienst und deshalb bewundernswert mutig – das zunehmende Wagenburgverhalten der Polizei analysiert. „Die größte Gefahr ist die Entfremdung (der Polizei) von der Bevölkerung“, schreibt Dobrowolski. In Teilen sei diese heute schon zu erleben. Leider, muss man dazu sagen, nicht nur in bestimmten Stadtvierteln, sondern auch in jenen Schichten, deren Anliegen oder Ordnungswidrigkeiten eher harmloser Natur sind, die sich aber gleichwohl hochgerüsteten, autoritär auftretenden Beamtinnen und Beamten gegenübersehen.

Niemand wird an dieser Stelle die von Wilderern erschossenen Beamten vergessen wollen. Keiner wird behaupten, dass es nicht liebenswürdige Polizeikräfte gibt, die den Bürgern auf Augenhöhe begegnen. Und ein jeder wird den Stress der Heerscharen von Polizistinnen und Polizisten nachvollziehen können, die sich bei Großdemonstrationen einer gewaltbereiten Menschenmenge gegenübersehen. Aber das Gros der Bevölkerung braucht etwas anderes als martialisch auftretende Uniformierte: Diese Menschen brauchen eine Polizei, die sie schützt und ihnen hilft, die nicht primär die Staats-, sondern die Bürgerinteressen in ihren Fokus stellt, die – nach Dobrowolski – zu einem Perspektivwechsel bereit und damit fähig ist, ihr Gegenüber zu verstehen. „Es macht einen Unterschied“, heißt es in dem Leserbrief, „ob Uniformträger ein ziviles und kooperatives oder ein zunehmend autoritäres und militärisch geprägtes Verständnis ihrer Aufgaben pflegen.“ Recht hat der Verfasser. Die Autorin plädiert – wie sollte es anders sein – für Ersteres.

6. Februar 2022

Vom Gottesstaat

Ramersdorf-Perlach ist ein eher unscheinbarer Stadtteil im Südosten Münchens. Er wäre an dieser Stelle nicht der Erwähnung wert, hätte dort nicht einer der Pfarrer der Gemeinde Verklärung Christi vergangenen Sonntag etwas Besonderes ersonnen: Statt selbst die Predigt zu halten, überließ er Gemeindemitgliedern den Altarraum. Sollten sie predigen, er würde zuhören.

Aus gutem Grund: Nicht nur für die Gemeindemitglieder, für die gesamte katholische Kirche waren es wieder einmal erschütternde Wochen. Zunächst das Gutachten über Verfehlungen der Erzbischöfe von München und Freising im Missbrauchsskandal einschließlich der inzwischen halbherzig korrigierten Falschaussage des emeritierten Papstes. Dann das eindrucksvolle Outing von mehr als 100 Katholikinnen und Katholiken im Kirchendienst als schwul, lesbisch, queer, non-binär oder als trans Personen einschließlich unmissverständlicher Berichte darüber, wie sie von kirchlichen Würdenträgern unter Druck gesetzt werden.

Das Outing hat nichts mit ihrem Glauben oder gar der Missbrauchs­praxis zu tun. Und doch lässt sich beides unter dem Aspekt verbinden, welchen Umgang die katholische Kirche mit Menschen pflegt und welches krude Selbstverständnis sich darin manifestiert.

An dieser Stelle mag es lohnen, das besondere Institut des Kirchenrechts in den Blick zu nehmen, das in einer aus heutiger Sicht seltsam anmutenden Koexistenz mit dem Staatsrecht steht. Dass die Kirche ihre eigenen Gesetze schreiben darf, ist grundrechtlich verankert. Dabei bestehen auf verschiedenen Rechtsgebieten freilich Unterschiede. Dem deutschen Strafrecht legt das Kirchenrecht keine Schranken auf, auch wenn es im Kirchenrecht selbst eine Art Strafrecht gibt. Beim Arbeitsrecht sieht das anders aus.

Wer eigenes Recht setzt, kann sich jenseits demokratischer Kontrollen zum Richter erheben und tut es auch. Das Kirchenrecht ist nicht das Ergebnis demokratischer Verhandlungslösungen, sondern kommt im Wortsinn „von oben“ über die Institution. Die Würdenträger sind genau in diesem Kontext sozialisiert. Warum sonst hätten sie den Missbrauch den Strafverfolgungsbehörden nicht angezeigt, obwohl die Straftäter Staatsbürger sind? Warum nehmen sie sich heraus, die Historie ihrer unzähligen Straftaten in eigens beauftragten Gutachten aufzuarbeiten, anstatt mit den Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren und ihnen ihre Archive zu öffnen? Dass die Staatsanwaltschaften das kirchliche Vorgehen einfach hinnehmen, anstatt Unterlagen umfänglich zu beschlagnahmen, ist dabei nur ein verstörender Nebenaspekt.

Man könnte weiter fragen: Wie kommen Pfarrer und Bischöfe dazu, Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Lebensform aus ihren Gemeinden und Unternehmen einfach auszusortieren, obwohl diese als tiefgläubige, engagierte Christen eigentlich alles richtig machen? Nur, weil dort Kirchenrecht verletzt wird, das längst dem deutschen Arbeitsrecht untergeordnet gehörte?

Es sei an der Zeit, aus dem „Riesenscherbenhaufen“ etwa Neues aufzubauen, sagte ein Gemeindemitglied von Verklärung Christi in München-Ramersdorf. Wohl wahr. Allein es fehlt der Glaube.

 

23. Januar 2022

Dystopia

Es ist vielleicht nicht der bekannteste, aber doch einer der eindrücklichsten Romane von Philip Roth. Und es ist sein letzter: Nemesis aus dem Jahr 2010. Bucky Cantor, ein 23-jähriger Sportlehrer aus Newark, erlebt Mitte der 1940er-Jahre, wie eine Polio-Epidemie seine Heimatstadt erschüttert. Sie kriecht von den Armen- in die besseren Stadtviertel und rafft – neben vielen anderen – zwei seiner Schüler dahin. Schließlich ereilt die grausige Krankheit auch ihn selbst. Schlimmer noch: Womöglich schon infektiös, befördert der junge Lehrer die Viren unwissentlich in ein Feriencamp in den noch Polio-freien Pocono Mountains. Als die ersten Fälle dort auftauchen, ist er ganz sicher: Er hat die Seuche in eine heile Welt getragen.

Wer den Roman gelesen hat, weiß, dass Roth an nicht weniger als der religionskritischen Frage gelegen ist, warum Gott – so es ihn gibt – dieses Leid überhaupt zulassen kann. Doch soll dies hier weniger interessieren als die Versuchsanordnung, die der amerikanische Star-Autor dafür wählt. Polio ist Mitte der 1940er-Jahre noch nicht erforscht. Die Übertragungswege sind unklar, nur das Ergebnis der Seuche kennt bald jeder: schwere Lähmungserscheinungen, die bleibende Schäden bei jenen hinterlassen, die den viralen Befall überleben.

Wer sich mit Hilfe dieses Romans in die Zeit vor der Erfindung des erlösenden Impfstoffs hineinbegibt, kommt nicht umhin, den Fortschritt von heute zu schätzen. Zur Zeit des Bucky Cantor sollte es noch eine Dekade dauern, bis 1955 endlich ein Impfstoff gegen das weltweit wütende Virus entdeckt wurde. Die Sichtbarkeit der verheerenden lebenslangen Deformationen durch Kinderlähmung mag dazu geführt haben, dass die Debatte über die Sinnhaftigkeit der Impfung nicht allzu ideologisch geführt wurde. Es ging damals weniger um das „Ob“ oder „Ob nicht“ als vielmehr um Lebend- oder Totimpfstoffe.

Übertragen wir die Roth’sche Versuchsanordnung für einen kurzen Moment ins Heute: Das Coronavirus triebe sein Unwesen seit nunmehr fast zehn Jahren, ohne dass es gelungen wäre, einen Impfstoff zu entwickeln. Die Politiker weltweit wüssten keinen anderen Ausweg, als die Menschen in einer dauerhaften Lockdown-Anstrengung voneinander zu separieren. Natürlich würde das über so lange Zeit misslingen, Massenproteste und neuerliche Massenansteckungen hervorrufen mit immer neuen Mutationen. An den Klinikpforten herrschte ein brutales Auswahlverfahren. Die Statistikämter zählten ein Zigfaches der bisher weltweit 5,5 Millionen Toten und eine erschreckend hohe Zahl an Long-Covid-Patienten. Ohne Frage: Solche zehn Jahre würden die Gesellschaft radikal verändern, spalten, soziale Ungleichheit befördern, sicher über die Dauer auch Aufruhr und schwer gewalttätige Unruhen. Die Bilder einer solchen Versuchsanordnung – dystopisch.

Das Gedankenexperiment muss man nicht weiterführen. Denn es gibt ja die Impfung. Aber es könnte weiterhelfen, sich vorzustellen, was wäre, wenn es sie nicht gäbe – und das nicht nur den Impfgegnern, sondern auch den Politikern, die kommende Woche ihre erste Parlamentsdebatte über eine mögliche Impfpflicht führen.

9. Januar 2022 

Fragen, was ist 

Der Spiegel wird dieses Jahr 75 Jahre alt. Das hat die Redaktion seine Leserschaft noch vor Jahresende wissen lassen und der Geschichte des Magazins einen eigenen Teil gewidmet. Durchaus zu Recht. Ein Dreivierteljahrhundert – das ist eine lange Zeit, über die man gemeinhin gar nicht nachdenkt, wenn man den Spiegel liest, war und ist er doch eine stete Konstante im wöchentlichen Zeitungsreigen. Und das mit Enthüllungen und Reportagen, die vor allem dann besonders interessant sind, wenn sie nicht in Schwarzweiß daherkommen, sondern die Grau-Schattierungen zum Vorschein bringen, die die Realität immer bereithält. Und wenn sie nicht erfunden sind.

Zur Feier des Jubiläums hielt die Spiegel-Redaktion nicht nur ein paar eindrucksvolle Statistiken bereit, wie etwa die von den mehr als 3900 Ausgaben und 400 000 Artikeln, die bisher erschienen sind. Sie brachte dem Leser auch jene Zitate des Gründers nahe, die seither die Arbeit seiner Journalisten und Journalistinnen prägen. „Nichts interessiert den Menschen so sehr wie der Mensch“, lautet einer. Gekauft.

Häufiger zitiert wird allerdings jener Slogan, über den sich die gesamte Spiegel-Redaktion definiert: „Sagen, was ist.“ Auch das hat Augstein gesagt. Es ist wohl sein bekanntester Ausspruch. Im Atrium des Hamburger Verlagshauses ist er in metallische Buchstaben gegossen und am Mauerwerk montiert.

Nun hat es dieses „Sagen, was ist“ durchaus in sich. Denn mit der fortwährenden Berufung auf diese drei Worte formuliert das Magazin nicht nur seinen Anspruch, sondern auch seine Haltung: Der Spiegel erklärt den Lesern die Welt, und das vor allem in ihren Missständen. Und er gibt zu wissen vor, wie und was wirklich ist.

Nur: Sagen, was ist – das tun andere längst auch, inzwischen sogar ganze Heerscharen im Internet. Sie erklären und deuten die Weltzusammenhänge auf ihre Weise. Wissenschaftler genauso wie Querdenker. Wahrheitssucher und Wahrheitsverdreher. Alle mit genau demselben Anspruch, den das Nachrichtenmagazin für sich reklamiert.

„Sagen, was ist“ aber ist – ehrlich gesagt – unmöglich. Es ist in seinem Anspruch schon fast ein Paradoxon, denn dieses Sagen ist und bleibt notwendigerweise eine höchst subjektive Angelegenheit. Schon die Auswahl der Themen – gerade auch im Spiegel – „spiegelt“ persönliche Einschätzungen wider, die dann bei der Bearbeitung der einzelnen Sujets noch viel tiefgreifender zur Wirkung kommen. „Ganz im Sinne Augsteins machen wir den Spiegel so, wie wir ihn gerne lesen würden“, schrieb der Chefredakteur unlängst. „Eben!“, würde man hierzu sagen und zu bedenken geben, dass die „Macher“ des Nachrichtenmagazins dem, was wirklich ist, nur im Idealfall näherkommen.

Nach 75 Jahren, in denen sich die Welt verändert hat, wird man behaupten dürfen, dass dieses „Sagen, was ist“ für ein journalistisches Medium seine Stimmigkeit verloren hat – in Anspruch und Umsetzung. Vielleicht wäre es an der Zeit, diese drei Worte durch ein „Fragen, was ist“ zu ersetzen. Denn weniger Anspruch wäre mehr – gerade auch für die Wahrheitsfindung. Zweifelsohne ist der Spiegel Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte. Doch hat er die Wahrheit nicht gepachtet. Auch, wenn er häufig genug so tut.

19. Dezember 2021

Ein Königreich 

Über das Haus Hohenzollern zu schreiben, ist nicht ganz ungefährlich: Ein falsches Wort in der schier endlosen Debatte um die Vermögensrückforderungen der schwerreichen Adels-Familie genügt, damit einem das Familienoberhaupt mit Anwälten zu Leibe rückt. Und das offenbar derart ruppig, dass der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands sich genötigt sah, die gesamten Klage-Aktivitäten der Familie, vor allem des so klagefreudigen Georg Friedrich Prinz von Preußen, gegen Medien, Politik und vor allem die Wissenschaft auf einer eigenen Webseite zu dokumentieren.

Die Anzahl der Rechtsstreitigkeiten ist erschreckend. Bemerkenswert aber: Unlängst ist der Ururenkel des letzten deutschen Kaisers vor dem Landgericht Berlin mit einem Abmahnverfahren gegen die brandenburgische Linke und die Volksinitiative „Keine Geschenke den Hohenzollern“ gescheitert.

Die Selbstwahrnehmung des Prinzen ist freilich eine andere. Er will ja keine Geschenke, sondern das, was der Familie angeblich gehört. Auf der Homepage beschreibt er sich denn auch nicht als notorischen Streithansel, sondern als weltoffenen Wohltäter, der seine Burg für Hunderttausende Besucher aufsperrt und sie benachteiligten Kindern als Feriendomizil zur Verfügung stellt. Mehr noch: der seine private Prinzeninsel im Großen Plöner See der Öffentlichkeit ebenso zugänglich macht wie Teile seiner privaten Kunstsammlung in Einrichtungen der Stiftungen Preußischer Kulturbesitz und Preußische Schlösser und Gärten. Sogar sein Engagement in der schwierigen Eigentumsfrage im Zusammenhang mit 15 000 Kunstschätzen legt er zu seinem Vorteil aus: Dort sei er zu einer außergerichtlichen Lösung und erheblichen Zugeständnissen gegenüber der Bundesrepublik bereit. Das allerdings insinuiert sein Rechtsverständnis: Tausende von Kunstwerken, die seine Urgroßeltern Wilhelm und Cecilie mit ihren Kindern 1945 auf ihrer Flucht in den Westen zurückließen, gehörten eigentlich der Familie und nicht dem Staat. Juristisch geklärt ist diese Frage aber nicht.

Genau an dieser Stelle wäre man wieder beim Anfang dieses Beitrags: der nimmer endenden Debatte darüber, was die Hohenzollern alles zurückbekommen müssten. Seit 2013 streitet die Familie mit dem Bund sowie den Ländern Berlin und Brandenburg ja nicht nur über die Kunstschätze, sondern auch über Wohnrechte auf verschiedenen Schlössern und Zahlungen in Millionenhöhe.

Faszinierend ist die Geschichte der Hohenzollern allemal, besonders beliebt aber ist dieser Clan beileibe nicht. Warum auch? Der Sohn des letzten Kaisers Deutschlands war nach historischer Forschung wohl ein glühender Unterstützer der Nazis, was Rückgaben oder Entschädigungen so oder so im Wege stünde. Und seine Nachfahren sind in Besitz- und Geldangelegenheiten nimmersatt. Georg Friedrich könnte all das mit einem Federstrich beenden und die Rückforderungen zurückziehen. Er könnte auch einmal neu darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn eine Familie Teil der glanzvollen und auch der dunklen Geschichte Deutschland ist. Wäre der Prinz tatsächlich so geschichtsbewusst, wie er sich auf der Familien-Homepage präsentiert, dann hätte er das alles längst getan.

5. Dezember 2021

Spaceforce

Was unterscheidet die private Raumfahrt von einem Wolf? Diese Frage wäre tatsächlich mehr als unsinnig, gäbe es nicht den inzwischen ausgehandelten Koalitionsvertrag, der mit „Mehr Fortschritt wagen“ überschrieben ist. Nun ist in diesem vermeintlichen Fortschrittspapier dem in deutschen Wäldern wieder heimisch gewordenen Wolf tatsächlich ein eigener Absatz von immerhin gut sechs Zeilen gewidmet. Das Hightech-Feld Raumfahrt hingegen wird in der zusammengefassten Rubrik Luft- und Raumfahrt mit gerade einmal gut drei Zeilen bedacht, die auch noch mit dem negativ konnotierten Begriff des Weltraumschrotts enden.

Würde man die Fortschrittsneigung der neuen Koalition nur an dieser Relation festmachen (was zugegebenermaßen ein bisschen unfair ist), dann wäre es mit dem Innovationsstandort Deutschland wider allen politischen Beteuerungen nicht weit her. Im Gegenteil: Die Wölfe stünden ihm näher.

Beispielhaft sei an dieser Stelle auf eine hochspannende Entwicklung hierzulande verwiesen, die vielen Politikern bisher entgeht. Es gibt ein paar Unternehmen, die wir gemeinhin als Start-ups bezeichnen, die kleine Trägerraketen bauen. Das sind Geschosse, die kleinste Satelliten in den Weltraum transportieren können, also Satelliten in Handy- bis Koffergröße, die auf Dauer keinen Weltraumschrott verursachen, weil sie beim Absturz komplett verglühen. Die aber höchst brauchbar sind, um im Orbit Satellitenkonstellationen zu etablieren, die das Internet bis in den letzten Winkel des Erdballs bringen. Es gibt ferner in Deutschland nicht nur Unternehmen, die genau diese Satelliten bauen, sondern auch solche, die Satelliten vernetzen können, weil sie die Laserkommunikation für solche Konstellationen im Weltraum anbieten. Will sagen: In der privaten Raumfahrt ist hierzulande jenseits breiter Wahrnehmung ein hochinnovatives Cluster entstanden, das Weltspitze ist. Nur, viele dieser Unternehmen sind nicht auf dem Radar der deutschen Politik, sondern auf dem der amerikanischen Konkurrenz, vor allem der Investoren.

Denken wir weiter: Nun wäre es für Deutschland schon geopolitisch nicht ganz unbedeutend, endlich über eine eigene Satelliten­konstellation im All zu verfügen. Denn sie ist die Voraussetzung dafür, Internet endlich flächendeckend anzubieten. Das Internet wiederum ist der Dreh- und Angelpunkt des Fortschritts. Ohne das Internet ergibt Digitalisierung keinen Sinn. Sollen wir uns hierzulande also wirklich prioritär um die Wölfe kümmern, um uns zum Beispiel in Sachen Internetabdeckung alsbald auf die großen amerikanischen Konzerne oder am Ende gar auf die chinesischen Anbieter zur verlassen, die dabei sind, den Weltraum für sich zu erobern?

Der Wolf und die Raumfahrt – fassen wir also zusammen: Spiegelte sich im künftigen Regierungshandeln der Koalitionäre die Gewichtung der Themen im Koalitionsvertrag, dann kehrten noch mehr Wölfe in die Wälder zurück. Die Hightech-Pioniere aber würden Deutschland verlassen – wahrscheinlich Richtung Westen, wo sie schon allein aus Finanzierungsgründen bessere Chancen sehen. Ob wir das wirklich wollen? Hoffentlich nicht.

21. November 2021

Kinderspiel

Ausgerechnet der Tintenfisch erreicht zurzeit zweifelhafte Berühmtheit. Und das über ein koreanisches Kinderspiel, das seinen Namen trägt: Squid Game. Die Konstruktion des Spiels soll hier keine Rolle spielen. Wichtiger ist, dass ein koreanischer Filmemacher aus einer Reihe von koreanischen Kinderspielen – darunter eben auch das Tintenfisch-Spiel – eine brutale Survival-Serie von verführerischer Tötungsästhetik für Netflix geschaffen hat. In der Serie werden massenhaft Menschen blutspritzend ermordet, weil sie in den Spielen zu den Verlierern zählen. Bisher haben weit mehr als 100 Millionen Zuschauer die Serie gestreamt.

Jetzt spielen überall auf der Welt ausgerechnet Kinder die Spiele und Szenen nach. Anders als in der Serie werden die minderjährigen Verlierer von ihren Altersgenossen zwar nicht umgebracht, aber häufig geohrfeigt, gemobbt oder sonst irgendwie gedemütigt. Das alles nennt sich Erfolg. Squid Game ist ein Mega-Hit.

Nur auf den zweiten Blick könnte sich der tiefere Sinn erschließen. Wer die Serie mit Spannung verfolgt, ist auch gewillt, die Verführungskraft der inhärenten Botschaft in Anspruch zu nehmen, um so auch zu demonstrieren, dass man der Faszination des bestialischen Spiels nicht erlegen ist. Squid Game sei, so heißt es dann, als gesellschafts- oder gar kapitalismuskritischer Kommentar unserer Zeit angelegt. Schließlich spielten arme, hochverschuldete Koreaner, die von den Mechanismen meritokratischer Gesellschaften auf die Verliererseite gedrängt wurden, um ihr Leben, damit sie im Erfolgsfall ihre Schulden begleichen können. Sie spielen gegeneinander und würden für den eigenen Erfolg sogar den Tod ihrer Mitmenschen in Kauf nehmen, so wie es – im übertragenden Sinne – im Turbo-Kapitalismus ja auch der Fall sei. Der Stärkere gewinnt, der Schwächere wird „eliminiert“. Rücksicht existiert nicht.

Man kann sich diese Serie auch anders schönreden: Auf den zweiten Blick wäre Squid Game der erstaunliche Aufstieg Südkoreas zu einer international viel beachteten Kulturbrutstätte, der er gelingt, mit ihrer – wenn auch recht platten – politischen Metaphorik alle Welt zu berühren. Das war dem Land schon mit der bemerkenswerten Satire Parasite gelungen, die gleich mehrere Oscars abräumte. Auch diesess Werk war gesellschaftskritisch. Nur nicht ganz so brutal.

Wenn Töten zum Kinderspiel mutiert, dann rettet den Film an dieser Stelle kein zweiter Blick. Deswegen sagen wir es lieber ganz direkt: Squid Game ist nicht clever, nicht ästhetisch, nicht intellektuell. Die Serie ist nichts anderes als eine Ansammlung von Gewaltinszenierungen, und sie versucht, Vergnügen daran zu vermitteln, Zuschauer des Massensterbens zu werden. Squid Game ist perfide gewaltverherrlichend und nicht nur wegen der Gewalt selbst, sondern auch wegen der Faszination, die von ihrer Inszenierung ausgeht, verstörend. Die Serie hat in Deutschland noch nicht einmal eine Altersfreigabe, weshalb schon Kindergartenkinder die Folgen schauen.

Eigentlich müssten solche Serien verboten werden. Aber davon sind wir inzwischen meilenweit entfernt. Im Gegenteil: Der fragwürdige Erfolg bringt es mit sich, dass es eine zweite Staffel geben wird.

7. November 2021 

Sparwitz

Derzeit herrscht Inflation. Die liegt höher, als Notenbankern und Verbrauchern geheuer ist. Um mehr als 4 Prozent steigen die Preise aktuell. Und es könnte gut sein, dass sich das Tempo der Geldentwertung schon bald auf 5 Prozent im Vorjahresvergleich erhöht, was ziemlich bedrohlich klingt.

Im vergangenen Jahr sah die Welt noch ganz anders aus. Da sanken die Preise, im Dezember um 0,3 Prozent. Und das ungeachtet einer regelrechten Geldschwemme bei Nullzinsen, mit der Europa seit Jahren geflutet wird. Das klang damals nicht minder bedrohlich, wobei sich trefflich darüber streiten ließe, was für Volkswirtschaften gefährlicher ist: Deflation oder Inflation.

Derzeit ist eine Debatte darüber entbrannt, warum das Tempo der Preissteigerung anzieht. Die Frage wird sich – wie so häufig in der Wirtschaftsgeschichte – erst im Nachhinein beantworten lassen. Eines aber lässt sich heute schon sagen: Für konservative Sparer ist die Kombination von Null- oder gar Minuszinsen und Inflation die schlechteste aller Welten, weil das Geld auf dem Konto im Extremfall gleich doppelt an Wert verliert. In Zeiten von Inflation müssten die Zinsen eigentlich steigen, nicht nur, weil den Sparern dadurch der Nachteil der Geldentwertung kompensiert, sondern auch, weil die Geldschwemme eingedämmt und sich das Geldangebot verknappen würde. Die europäische Notenbank müsste also handeln. Sie hätte die Chance, den Zins als zentrale Steuerungsgröße für Investitions-, Spar- und Konsumverhalten endlich wieder zu etablieren. Doch verweigert sie diesen Schritt.

Das Zusammenspiel von Inflations- und Zinsentwicklung hat allerdings nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine sozialpsychologische Seite, die ihrerseits wieder auf die Ökonomie zurückwirkt. Denn seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten wächst eine Generation ohne die Gewissheit heran, dass das Sparen sich lohnt. Sie hat verlernt, wie es sich anfühlt, dass Konsumverzicht heute durch den Zins- und Zinseszinseffekt halbwegs berechenbaren Vermögenszuwachs in der Zukunft bringt. Kein Wunder, gerade das will ihr die Notenbank schließlich auch beibringen: Nicht das Sparen, sondern das Konsumieren und Investieren beflügeln die Wirtschaft. Und am besten machen da alle mit.

Die Zeiten des konservativen, risikoaversen Sparens sind jedenfalls vorüber. Das Sparbuch, in das man in den 1970er- und 1980er-Jahren noch seine Ersparnisse eintragen ließ, nachdem man sie zur Bank getragen hatte, gibt es nicht mehr. Und Festgeld, das ein Jahrzehnt später das Sparbuch ersetzte, bringt auch nichts mehr. Wer heute spart, was natürlich noch möglich ist, muss nicht auf Zins, sondern Rendite setzen, die ihm – wenn er Glück hat – den Wertverlust durch die Inflation kompensiert. Von den Aktienmärkten war man derlei gewöhnt. Doch selbst am Markt für Bundesanleihen bringen nur noch die Kursgewinne einen Vermögenszuwachs. Will sagen, wer Rendite erzielen will, die den Zins ersetzt, muss sich ins Risiko begeben. Auch das lernt die Nullzins-Generation seit Jahren. Sicher ist: Das wird ihr Verhalten prägen. Ob zum Vor- oder Nachteil der Wirtschaft, wird sich noch zeigen.

23. Oktober 2021

Wirtschaftsweise

Schauen wir uns die weltweite Lieferkrise einmal aus einer persönlichen Perspektive an: Da bringt man sein Fahrrad zum Händler, um einen neuen Schlauch aufziehen zu lassen, und betrachtet, während man in einer endlos langen Käufer-Schlange wartet, die neuen E-Bikes, die sich aufgereiht vor der Ladentür anbieten. Während man noch überlegt, ob ein E-Bike nicht eine feine Sache wäre, schaut der Fahrradhändler bedeutungsvoll die Warteschlange entlang: „Wer so ein E-Bike haben möchte, der kaufe am besten noch heute eins“, ruft er uns zu. Wenn keine mehr da seien, sagte er weiter, hieße es warten. Und das mindestens ein halbes Jahr.

Das Warten ist keiner mehr gewohnt. Just-in-time ist das endlos verzweigte Netz an Lieferketten über den Globus organisiert, nicht nur den Kunden zuliebe, sondern weil Ware zu lagern sündhaft teuer ist. Jetzt aber ist alles anders. Die wirtschaftlichen Nachwirkungen des harten Lockdowns zeigen sich inzwischen. Denn einmal jäh durchbrochene Lieferketten sind schwierig wieder in Gang setzen. Deren Unterbrechung löst Kettenreaktionen aus, die sich zweifelsohne auf Unternehmensbilanzen niederschlagen, vielleicht sogar in Einkommenseinbußen münden oder gar in einem Anstieg der Erwerbslosigkeit. Sicher ist: Dieses neuartige Phänomen kostet die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr mindestens 40 Milliarden Euro.

Zurück zum E-Bike. Tatsächlich steht man kurz davor, sich das rote genauer anzusehen, um vielleicht doch noch diese Woche zuzuschlagen. Wer würde schon ein halbes Jahr warten wollen?

Vielleicht wäre es tatsächlich zu einem Kauf gekommen, hätten da nicht diese Woche die fünf Wirtschaftsforschungsinstitute ihr traditionelles Gemeinschaftsgutachten vorgelegt, in dem vor allem eine Stimme besonderen Nachhall fand. Es war die von Oliver Holtemöller, dem Präsidenten des IWH in Halle: „Wie man es auch dreht und wendet, ohne einen Konsumverzicht ist eine spürbare CO₂-Reduktion nicht zu erreichen.“ Effektive Klimapolitik sei nur möglich, wenn wir alle den Gürtel enger schnallten, mahnte er.

Ausgerechnet von Ökonomen hört man derlei selten, nicht zuletzt, weil sie wissen, was Konsumverzicht für das Wirtschaftswachstum real bedeutet.

Was aber haben nun der Konsumverzicht und die Lieferkrise miteinander zu tun?

Vor allem eines: Die Lieferkrise zwingt einem Bedenkzeit auf, um über die Logik des Konsumverzichts allgemein und die Notwendigkeit eines neues E-Bike im Besonderen nachzusinnen. Muss das denn wirklich sein? Zwar fährt das mit Strom betriebene Zweirad emissionsfrei, doch wurde es ganz sicher nicht emissionsfrei hergestellt. Mehr noch: Ein ordentliches Fahrrad hat man längst. Eines, das keinen Strom verbraucht, der so oder so noch längst nicht „öko“ ist, sondern nur Muskelkraft und damit Kalorien. Das hat doch was. Das E-Bike wurde schließlich nicht gekauft.

 

9. Oktober 2021

Büchsenspanner

Hephaistos, der Sohn von Zeus und Hera, schuf einst auf Geheiß seines Vaters eine Frau aus Lehm und nannte sie Pandora. Berühmt wurde sie ausschließlich für ihre Büchse und das Unheil, welches sie dadurch über die Menschen brachte, dass sie ihre Neugierde über den Doseninhalt wider die Anweisung des Göttervaters nicht ihm Zaum zu halten wusste. Das Übel, das dem unseligen Behälter entwich, ereilte die Erde in Form aller denkbaren Laster und Untugenden, an denen sich die Öffentlichkeit immer dann genüsslich delektiert, wenn Prominente und Superreiche davon betroffen sein könnten. Denn deren offensichtlichstes Laster scheint die Gier.

Nicht minder genüsslich und in der Intention allzu transparent hat ein Rechercheverbund den Namen Pandora für ein „Projekt“ gewählt, im Rahmen dessen es Millionen geleakter Daten ausgewertet und damit das Finanzgebaren von Politikern, Prominenten und Firmen publik gemacht hat: „Pandora Papers“. Der Name liefert die moralische Verurteilung gleich mit. Die nun öffentlich benannten Personen stehen ob ihrer Geldgeschäfte am Pranger. Einen Wikipedia-Eintrag gibt es auch schon (so schnell geht das sonst nicht). Wer mag, kann sich die Liste der Betroffenen genauer anschauen.

Nein, es ist nicht schön, wenn gerade die Superreichen versuchen, Steuerzahlungen zu vermeiden, so sie es denn überhaupt getan haben. Es ist auch nicht klug, wenn Claudia Schiffer, Elton John oder Tony Blair hinter Firmennamen verdeckt investieren, obwohl sie natürlich ein Recht darauf haben, dass nicht jeder weiß, was ihnen gehört.

Allerdings ist, anders als die Betitelung der Papiere suggeriert, damit noch überhaupt nicht gesagt, wer das Finanzamt betrügt und wer nicht oder wer sein Geld aus dunkleren Kanälen zieht. Genau das ist die Krux der Arbeit des Recherchenetzwerkes, das sich mit der Nennung von ein paar hundert vermeintlichen Übeltätern in Szene setzt und nur in einer Fußnote darauf hinweist, dass nicht alles illegal sein könnte.

Vor der Veröffentlichung solcher Daten müsste eigentlich eine erste doppelte Recherche stehen. Die nämlich nach der Illegalität des Tatbestandes solcher Konten und Briefkastenfirmen und vor allem nach der Herkunft des Geldes, das da auf Offshore-Konten seiner Verwendung harrt. Erst wer darum weiß, wäre berechtigt, öffentlich Menschen in den Verdacht von Unrechtstatbeständen zu rücken, so sie sich denn auf solchen Listen finden. Diese Arbeit aber hat noch gar nicht stattgefunden.

Insofern ließe sich nicht nur über die moralische Einstellung derer diskutieren, die sich – legal oder illegal – am Fiskus vorbeischieben, sondern auch über die Art und Weise, solche Leak-Projekte öffentlichkeitswirksam zu verarbeiten, da doch zumindest in Deutschland – dem Rechtsstaat sei Dank – vor dem Beweis der Schuld die Unschuldsvermutung.

25. September 2021

Made in China

Das chinesische Zeichen 恒 (héng) erlangt in diesen Tagen eine zweifelhafte Konnotation. Übersetzt wird es eigentlich mit „ausdauernd“, „beständig“ oder „konstant“ und ziert in Kombination mit dem chinesischen Zeichen 大 (dà) für „groß“ einen Immobilienkonzern, dessen Geschäftspolitik dem darin liegenden Versprechen derzeit wohl kaum gerecht wird. Der chinesische Wohnungsbau-Gigant hat sich im Englischen den Namen Evergrande gegeben, was deutlich banaler klingt als das, was in der Bedeutung der chinesischen Zeichen tatsächlich mitschwingt: Erfolg durch Beständigkeit.

Beständig aber ist gerade gar nichts bei Evergrande. Der Konzern wankt und kann seine Zahlungsverpflichtungen nicht bedienen. Ob er das Geld hat, die Wohnungen fertigzustellen, die Millionen seiner Kunden schon bezahlt haben, steht mehr als in Frage. Seine Verschuldung von mehr als 300 Milliarden Dollar ist exorbitant. Angeblich bereitet die Zentralregierung das Land auf seinen Kollaps vor.

Das Problem ist in dreifacher Hinsicht heikel. Erstens ist Evergrande mit seinem Finanzgebaren kein Einzelfall. Im Gegenteil: China ertrinkt in Schulden. Provinzen, Kreise, Städte, Staatskonzerne, der Zentralstaat – sie alle leben auf Pump. Inzwischen erreicht die Schuldenlast fast 300 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Riesenreichs. Zweitens macht die hochverschuldete Immobilienwirtschaft einschließlich der Baubranche einen beachtlichen Teil des chinesischen Bruttoinlandsprodukts und damit der chinesischen Wachstumsdynamik aus. Und drittens ist China zum Wirtschaftswachstum verdammt, liegt doch genau darin das Versprechen der permanenten Wohlstandsmehrung, mit dem sich die autoritäre Zentralregierung das Milliardenvolk gewogen hält. Aufgrund dieser Zusammenhänge könnte Evergrande ganz China in die Krise stürzen.

Aus westlicher Sicht ist der Kurs, den China seit der wirtschaftlichen Öffnung unter Deng Xiaoping verfolgt, so etwas wie eine gigantische Versuchsanordnung: Ein kommunistisches Regime mit dem totalen Durchgriffsrecht auf jedes Feld der volksrepublikanischen Gesellschaft versucht, sich ausgerechnet der wohlstandstreibenden Vorteile zu bedienen, die eine kapitalistische Ordnung mit sich bringt.

Dass die Regierung gedacht hat, in dieser Anordnung gebe es keine Trade-offs, ist fast nicht vorstellbar. Wachstum zulasten finanzieller Solidität geht eben nicht lange gut. Aber vielleicht hat Peking gehofft, in seinem autoritären System die Schuldenwelle leichter einzudämmen. Sollte ihm das gelingen, um dadurch auf den Pfad der Beständigkeit zurückzukehren, sind Wachstumseinbußen die notwendige Folge.

Wie das Milliardenvolk darauf reagiert, wird mindestens so spannend wie wenn erst Evergrande und dann womöglich auch noch andere Schuldenpyramiden des Landes in sich zusammenstürzen.

11. September 2021

Nine/Twelve

Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht weiß, wo er am 11. September 2001 gewesen ist, als die Flugzeuge die Twin Towers zum Einsturz brachten. Genauso wenig wird es jemanden geben, der nicht behaupten würde, noch am gleichen Tag von dem Gefühl überwältigt worden zu sein, dieses Ereignis würde die Welt verändern.

Genauso ist es gekommen. Der Tag hat die Welt verändert – allerdings anders, als die ersten Wochen nach dem Angriff auf die USA vermuten ließen. Zwar rief die Nato umgehend den Bündnisfall aus, doch sah es im September noch danach aus, Amerika könnte eine überlegte internationale Allianz gegen den Terror schmieden und nicht schon bald gegen ganze Länder in den Krieg ziehen. Hatte George W. Bush nicht umgehend alle Muslime in den USA in Schutz genommen und eine Moschee besucht? Hatte er nicht noch am 20. September in seiner außerordentlichen Regierungserklärung den Unterschied zwischen dem afghanischen Volk und seiner Regierung betont? Hatte er nicht deutlich differenziert zwischen dem Islam und dem Terror im Namen Allahs? Und hatte das nicht alles die – ex post völlig unrealistische – Hoffnung genährt, die Vereinigten Staaten würde bedacht handeln und versuchen, der Drahtzieher des Attentats gezielt habhaft zu werden? Allein, es sollte anders kommen.

Und trotzdem: Wie würde die Welt heute aussehen, wenn die USA am 7. Oktober 2001 nicht begonnen hätten, Taliban-Stellungen und Infrastruktur in Afghanistan zu bombardieren, um schon bald Bodentruppen in das Land zu entsenden und sich in einen 20-jährigen Krieg zu verstricken? Wenn sie ein Jahr später, im September 2002 nicht im Irak eingefallen wären und dies pauschal mit dem „Kampf gegen den Terror“ begründet hätten?

Wie wäre es heute um den Nahen Osten bestellt, wenn Washington genau diesen Vorwand nicht gleich auch für den Versuch genutzt hätte, seinen Einfluss im Mittleren Osten und in Zentralasien auszudehnen, um damit seine internationale Führungsrolle zu festigen? Welche schwere Beschädigung des Rechtsstaats hätte Amerika vermieden, wenn es Guantanamo erst gar nicht eröffnet und auf die Einrichtung anderer Black Sites verzichtet hätte?

Und noch eine letzte Frage: Lohnt es heute noch, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie es hätte sein können? Unbedingt. Nichts anderes als die Vorstellungen der Menschen darüber, wie sie leben wollen, bestimmen die Welt von morgen. Das gilt auch für die Politik. Wer die Vorstellungen, wie anders die Reaktionen auf einen solchen Angriff hätten ausfallen können und welche Chancen darin gelegen hätten, mit der historischen Attacke anders umzugehen, als obsolet verwirft, wird niemals in der Lage sein, aus der Geschichte zu lernen.

28. August 2021

Verkümmert

Augustusburg ist ein hübsches Städtchen in Mittelsachsen, das es nicht nur aufgrund des weithin sichtbaren gleichnamigen Schlosses zu gewisser Bekanntheit gebracht hat. Vielmehr laboriert dort seit 2013 ein überaus beliebter Bürgermeister, der mit reichlich kommunaler Rückendeckung so ziemlich vieles anders macht als der Rest der Republik. Vorschreiben ließ und lässt er sich nichts, weder in der Flüchtlings- noch in der Corona-Krise.

Anfang der Woche wurde der eigenwillige Lokalpolitiker Dirk Neubauer aus seinem Sommerurlaub auf die Bühne der Berliner Politik befördert – durch ein Interview in einem ziemlich bekannten Podcast. Fünf Wochen vor der Bundestagswahl sagt er darin zwei Sätze, die tief in seine Gemütslage blicken lassen: „Wenn wir nicht alle Leute verlieren wollen, die noch etwas wollen in diesem Land, wären wir gut beraten, das Kümmern durch das Ermöglichen zu ersetzen. Denn das Kümmern hat diese Hybris: Wir wissen, was für euch gut ist.“

Neubauer war bis vor kurzem Mitglied der SPD. Doch mit einer derartigen Gesinnung hat er in dieser Partei nichts verloren, deren früherer Generalsekretär und heutiger Kanzlerkandidat sich bereits 2002 mit seinem Postulat, die „Lufthoheit über die Kinderbetten“ erobern zu wollen, politisch unzweifelhaft verortet hat.

Konsequenterweise ist der Bürgermeister im Mai aus der SPD wieder ausgetreten und derzeit parteilos. Zur CDU und ihrem riesigen, von oben durchregierten Apparat würde der Freigeist freilich auch nicht passen. Wählen, sagte Neubauer, würde er wahrscheinlich die Grünen, was Sinn ergäbe, wenn man an die Grünen von früher dächte als eine wenig etatistische Partei, die sie einmal gewesen sind. Aber heute?

Wenn man genauer zuhört, dann müsste das Ex-SPD-Mitglied eigentlich etwas ganz anderes verkünden. Dass er nämlich der FDP nahestehe. „Wir haben eine Hybris etabliert, die den Menschen ein Vollkasko-Leben verspricht“, wetterte er auch. All das passt genau in das Profil der Liberalen, die Eigenverantwortung und Privatinitiative seit jeher großschreiben. Nur wird er sich mit dem smarten, mitunter kalt-glatten Christian Lindner kaum identifizieren können.

Kurz: Solche wie Neubauer lassen sich in kein politisches Schema ein- oder gar einer Partei zuordnen. Ausgerechnet solche wie ihn kann Deutschland aber gut gebrauchen: lokal verortet, pragmatisch, authentisch, eigenwillig, kreativ und vor allem engagiert.

So manifestieren sich die Schwächen des politischen Systems, in dem sich die politischen Eliten von der Bevölkerung entfernt und die Parteien ihre Bindungskraft verloren haben, nicht nur in der Politikverdrossenheit breiter Teile der Bevölkerung, sondern bedauerlicherweise und besonders schmerzhaft gerade in jenen, die sich ernsthaft politisch engagieren.

14. August 2021

Wurstigkeiten

Es liegt nahe, sich am Ende dieser Woche noch einmal über die Currywurst Gedanken zu machen. Wer es noch nicht weiß: Die Currywurst ist keine Wolfsburger, sondern eine Berliner Erfindung der Imbissbudenbesitzerin Herta Heuwer aus dem Jahr 1949. Besonders macht die Wurst die Soße aus Chili, Ketchup und einer bestimmten Gewürzmischung. Nur in Wolfsburg wird schon dem Fleisch Curry beigemischt, was eigentlich nicht richtig ist.

Hunderte Millionen Currywürste werden jährlich verspeist, von denen sieben Millionen in einer Fleischerei produziert werden, die dem Automobilkonzert VW gehört. Gesund ist die Wurst bei 64 Gramm Fett nicht. Egal. Seit 2009 hat die Wurst in Berlin sogar ein eigenes Museum. Und schon viel länger mindestens zwei berühmte Fans: Herbert Grönemeyer und vor allem Gerhard Schröder.

Diesem Volksgericht steht jetzt – bei Volkswagen – das Aus bevor. Die Kantine soll nach dem Werksurlaub fleischlos werden, aus Gesundheits- und Umweltgründen. Bemerkenswert daran ist zunächst einmal die Attitüde der Konzernspitze, die tatsächlich meint, die VW-Belegschaft durch ein Verbot zur besseren Ernährung und zu klimafreundlicherem Verhalten erziehen zu können.

Bemerkenswert ist ferner, dass ein Automobilkonzern überhaupt eine Metzgerei betreibt, die in dem Moment ihre Berechtigung verliert, in dem die Mitarbeiter keine Currywurst mehr serviert bekommen. Wäre es da noch in Ordnung, dass VW seine Wurst ausschließlich extern anbietet – was zu 80 Prozent so oder so schon geschieht – und damit zwar nicht mehr die Gesundheits- und Umweltbemühungen der eigenen Belegschaft, aber doch die von ganz Wolfsburg und Hannover, ja, ganz Niedersachsen zu unterläuft? Spätestens, wenn das letzte Auto mit Verbrennungsmotor vom Band rollt, müsste auch die Currywurst-Fleischerei geschlossen werden.

Bemerkenswert ist noch ein dritter Aspekt. Und der liegt – sozusagen – auf der Metaebene. Dass nämlich sowohl die Attitüde als auch das Faktum einer eigenen Fleischerei wohl nur in einem Konzern möglich sind, bei dem so oder so alles ein bisschen anders funktioniert, weil das Land Niedersachsen 20 Prozent der Stimmrechte auf sich vereint und immer und überall ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat. Der Umgang mit der Wurst und den Mitarbeitern ist Paternalismus pur, bei dem alles Gute nur von oben kommen kann.

Geht man davon aus, dass der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil als VW-Aufsichtsratsmitglied die Currywurst-Entscheidung mitgetragen hat, dann könnte es für das Gericht in ganz Niedersachsen nicht besonders rosig aussehen. Konsequenterweise müsste er Currywürste nach dem Sommer im ganzen Land verbieten lassen. Ganz ehrlich, Gerhard Schröder wäre das als Ministerpräsident nicht passiert.

31. Juli 2021

Grabenkämpfe

Richard Wagner traute Frauen nicht allzu viel zu. Schon gar nicht eine Führungsrolle. „Die Musik ist ein Weib“, schrieb er einst. Sie sei nur ein gebärender, keinesfalls ein zeugender Organismus. Erst wenn sie von den Ideen des Tondichters befruchtet sei, würde sie lebendige Melodien hervorbringen.

So wenig Sinn diese Allegorie ergibt, so aufschlussreich ist sie im Hinblick auf das Frauenbild des Musikgenies. Frauen hatten nach seinen Vorstellungen stets dienende, niemals führende Funktionen. Schon vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass man sich erst nach 145 Jahren Festspielgeschichte in Bayreuth getraut hat, zur Eröffnung eine Frau ans Pult zu lassen.

Oksana Lynivs Auftritt war furios, ein atemberaubender Triumph, die Musikwelt aus dem Häuschen, das Publikum begeistert. Ja – Frauen können führen, mit dem Taktstock so oder so nicht schlechter als Männer, nur ließen diese sie unter Anführung krudester Argumente bisher nicht ran. Das beliebteste: Die Frauen seien eben noch nicht so weit. Seit Lynivs Debüt in Bayreuth, wo sie den „Fliegenden Holländer“ dirigierte, müsste damit eigentlich endgültig Schluss sein. Wird es aber nicht so schnell.

Bis heute kann man sich fragen, warum in der klassischen Musik die großen Bühnen überwiegend den Männern gehören. Das zeigen die Konzertprogramme der renommierten Veranstalter jedes Jahr aufs Neue. Dabei sind seit vielen Jahren die Studentinnen in den Konservatorien in der Überzahl. Im Fach Dirigieren machen sie 40 Prozent aus.

Die Antwort darauf hat weder etwas mit mangelnden Fähigkeiten oder fehlender Durchsetzungskraft der Frauen zu tun. Sie ist einer ganz anderen Sorge der noch immer männlich dominierten Musikszene geschuldet. Es geht schlicht und einfach um die begrenzte Anzahl an Posten, um die sich fortan eine größere Zahl von Künstlerinnen und Künstlern bewirbt, weil für die besten Stellen eben nicht mehr nur Männer, sondern auch außergewöhnliche Frauen antreten. Für männliche Musiker reduzieren sich dadurch die Chancen erheblich. Nicht nur für so manchen Dirigenten ist das existentiell. Das Bayreuther Dirigat des „Fliegenden Holländers“ kann eben nur einmal vergeben werden.

Bleiben wir zuversichtlich: Auch wenn sich Wagner im Grabe umdrehen würde, werden Festspiele kommen, an denen nicht nur eine, sondern mehrere Dirigentinnen auftreten, so wie jedes Jahr auch mehrere Dirigenten engagiert werden. Schon bald wird das alles keine Sensation mehr sein, sondern nur noch manch ambitionierten Dirigenten schmerzen. Und Richard Wagner: Wenn er einer solchen Vorstellung beiwohnte, ohne die Gelegenheit zu bekommen, einen Blick in den Graben zu werfen, er würde es wahrscheinlich noch nicht einmal bemerken.

17. Juli

Maßstäbe

Kaum hatte die EU-Kommission diese Woche ihr Klimapaket vorgestellt, schon prasselte vor allem Kritik auf die 27 Kommissare einschließlich ihrer Präsidentin ein – von Experten, von Umweltschützern, von der Industrie, von den Medien. Zu unambitioniert, sagen die einen, zu teuer für den weltweiten Gesamtnutzen die anderen, zu wettbewerbsverzerrend, zu einseitig in den Maßnahmen. Vielleicht zu spät, hieß es auch – nach einer zweijährigen Verhandlungsphase blieben nur noch gut sechs Jahre, um bis 2030 die 55 Prozent CO2-Reduktion im Vergleich zu 1990 zu erreichen.

Ähnliches ist eine Woche zuvor der G20 widerfahren, als sie in Venedig ihr Verhandlungsergebnis präsentierte, das eine globale (sic!) Mindestbesteuerung für internationale Unternehmen von 15 Prozent vorsieht. Ein einzigartiges Vorhaben, und wieder hieß es für die einen, es sei vor allem bezogen auf die Höhe des Steuersatzes nicht ehrgeizig genug. Andere zweifelten an der Umsetzbarkeit. Dabei haben sich 131 von den 139 in der OECD zusammengeschlossenen Staaten zumindest auf Arbeitsebene einverstanden erklärt. Schon das ist sehr erstaunlich, wo doch der Kampf um Standortvorteile von Nationalstaaten gerne über niedrige Steuersätze geführt wird.

So unterschiedlich die beiden Vorhaben sind, so unvergleichbar die Ebenen, auf denen sie erdacht wurden und nun weiterverhandelt werden müssen, so divers die Herausforderungen. Und so wenig man sie eigentlich in einem Atemzug nennen sollte – die viele Kritik, die beiden Vorhaben widerfährt, bevor sie erst richtig begonnen haben, ist wohlfeil. Sie ist vielfach nicht kreativ, nicht innovativ, den Vorhaben nicht förderlich.

Es hätte die Chance gegeben, auch einmal anders zu reagieren – mit einer gewissen Faszination dafür, dass sich erstmals seit Jahren Politiker verschiedener Nationalitäten gemeinschaftlich auf Maßnahmen verständigen, um endlich zwei globale Großbaustellen in Angriff zu nehmen.

Natürlich hätte die EU besser daran getan, sich Klimaschutzmaßnahmen nicht erst dann zuzuwenden, wenn das Abschmelzen der Polkappen unabwendbar ist und Schüler massenhaft auf die Straßen gehen. Und natürlich hätte sich die G20 viel früher über den unerträglichen Missstand Gedanken machen müssen, dass die ertragreichsten Konzerne der Welt sich jeglicher Steuerpflicht entziehen, während die einzelnen Staaten vor allem ihren Mittelstand schröpften.

Doch: Besser spät als gar nicht. In den zwei vergangenen Wochen sind zwei hochinteressante Experimente gestartet, die für die Nationalstaaten weitere Souveränitätsverzichte mit sich bringen werden. Es könnten tatsächlich zwei beispielhafte Prozesse beginnen, die klein zu reden das falsche Signal ist, weil sie das Potential haben, die Maßstäbe internationaler Zusammenarbeit zu verändern.

3. Juli 

Wechselmodell

Viel zu lange war Fußball ausschließlich Männersache. Das wird bei dieser EM besonders augenfällig. Zwar werden die Spiele noch immer bis auf eine Ausnahme von Sportreportern und nicht von Sportreporterinnen kommentiert, doch haben ARD und ZDF endlich Expertinnen für ihre EM-Teams engagiert.

In der ARD macht die Nationaltorhüterin Almuth Schult einen grandiosen Job und stellt ihre männliche Konkurrenz mit jedem weiteren Einsatz in den Schatten. Beim ZDF assistiert die zweimalige Weltmeisterin und heutige Trainerin Ariane Hingst als Co-Kommentatorin Claudia Neumann, die derzeit als einzige Frau EM-Spiele kommentieren darf. So viel Frauen-Power war bei einem internationalen Turnier noch nie. Schon deshalb hat dieser Wettkampf seinen ganz eigenen Reiz.

Einer der bisher wohl aufregendsten Fußballabende der EM 2021, an dem Spanien gegen Kroatien siegte und die Schweiz Frankreich aus dem Turnier warf, hatte nicht nur wegen der Spiele selbst einen hohen Spannungsfaktor. Erst kommentierten zwei Frauen, dann zwei Männer. Der Unterschied lag dabei weniger in der Fachkunde, die an dieser Stelle nicht beurteilt werden soll, sondern in der Tonalität. Die Damen kommentierten sachlicher, die Männer emotionaler. Beides braucht es. Die einen waren zurückhaltender in ihren Vorhersagen der Spielverläufe, die anderen mutiger, lagen an jenem Abend aber immer wieder daneben. Keines von beiden ist besser oder schlechter. Die Vielfalt zählt. Frauen tun dem Erscheinungsbild des Männerfußballs mehr als gut.

Zugegebenermaßen etwas gewagt könnte man sogar noch weitergehen: Frauen täten dem Männerfußball wahrscheinlich nicht nur auf dem Bildschirm gut. Damit sich dieser Sport endlich seines archaischen Machismus entledigt, der seiner Weiterentwicklung so sehr im Wege steht, braucht es nicht weniger als einen Neubeginn. Und der finge ganz oben an. Spätestens bei der Weltmeisterschaft 2018 hätten sich die Männer im Präsidium des DFB das eingestehen müssen. Den Mut dafür brachten sie nicht auf, sie hätten sich selbst entmachten müssen. Mit dem frühen Scheitern von Trainer, Mannschaft und vor allem deren Management bei dieser EM ist es nun mehr als offensichtlich, dass sich der deutsche Fußball mit bestehendem Personal und damit aus sich heraus nicht reformieren kann. Mehr Diversität wäre zumindest eine Chance, dass der so erbärmlich abgewirtschaftete DFB seine Strukturprobleme in den Griff bekommt.

Hochprofessionelle, durchsetzungsstarke Frauen sind endlich bereit, Verantwortung zu übernehmen, sogar an der Spitze. Zu lange hatten auch sie das in Deutschland Unmögliche nicht denken wollen – nämlich dass weibliche Expertise dem ausschließlich von Männern dominierten Männerfußball helfen kann. Inzwischen aber steht für viele außer Frage, so manch einer Frau sehr viel mehr zuzutrauen als der überalterten, verfilzten Truppe, die derzeit im deutschen Fußball das Sagen hat.

19. Juni

Macht und Mitte 

Als wir Mitte der 1980er-Jahre durch China reisten, fiel abends in den Großstädten vor allem eines auf: die Dunkelheit. Es gab kaum Straßenbeleuchtungen und so gut wie keine Autos, nur Fahrradfahrer auf bleischweren schwarzen Zweirädern.

Dann kam die Öffnung und mit ihr die Euphorie des Westens, an China als riesigem Absatzmarkt Milliarden zu verdienen. Je mehr mit der chinesischen Aufholjagd dort der Wohlstand stieg, desto mehr wurde das Land zum Absatzeldorado für deutsche Konzerne. Bis heute verkauft VW fast die Hälfte seiner Autos im Reich der Mitte. Noch im Coronajahr 2020 „rettete“ China die deutschen Autobauer.

Doch daran denkt keiner mehr. Derzeit steht die Bedrohung durch das Land der Superlative im Zentrum – der Westen wolle, ja müsse dem chinesischen Expansionsdrang etwas entgegensetzen. Neu ist die Angst vor China nicht: Wenn China erwacht, wird die Welt zittern, hatte Napoleon einst gewarnt. Der bekannte Spruch wurde auch damals schon zitiert, als noch Funzeln die holprigen Straßen in Shanghai beleuchteten.

Es ist an der Zeit, ein wenig Tremolo aus der China-Angstdebatte zu nehmen. China ist längst erwacht, und der Westen hat davon enorm profitiert. Es war zu erwarten, dass China irgendwann die gleichen Ansprüche im globalen Wettbewerb geltend machen würde, wie sie die USA seit dem Ersten Weltkrieg vorgetragen und praktiziert haben. Dabei geht es nicht nur um die Wirtschaft. Es geht auch um die Vorherrschaft auf militärischem und politischem Feld, es geht um Einfluss und natürlich Unterwanderung, es geht um das politische System. Dass uns dabei im Westen der Gedanke an eine amerikanische Supermacht weniger bedrückend erscheint als eine chinesische, liegt nahe.

Chinas Regierung hat über die letzten Jahrzehnte konsequent drei Ziele verfolgt: die nationale Souveränität, die innenpolitische Stabilität und den wirtschaftlichen Aufholprozess. Die drei Ziele sind interdependent und darüber hinaus die Grundsäulen für den politischen Machterhalt der Kommunistischen Partei. Mehr noch: Der Wirkungszusammenhang besteht auch umgekehrt, dass nämlich der Machterhalt der KP – noch – eine Grundvoraussetzung für diese drei strategischen Ziele ist. Hinzugekommen ist der weltpolitische Anspruch. Dieser ist so normal und erwartbar wie die Expansionsbestrebungen des Westens nach 1989. Amerika und Europa tun gut daran, sich für das neue Wettbewerbstempo endlich zu wappnen, sollten dabei aber nicht vergessen, dass China für seinem Erfolg, den es für die innenpolitische Stabilisierung so dringend braucht, erstens auch vom Westen abhängig ist und dass es zweitens so manches Problem unserer Erde gibt, das weder die USA, noch Europa und auch nicht China alleine lösen können.

5. Juni 

Exzellenzinitiative

Udo Di Fabio ist als meinungsstarker, scharf denkender Verfassungsrechtler bekannt. Diese Woche war er zu einem virtuellen Kamingespräch bei der Ludwig-Erhard-Stiftung geladen, jener Stiftung, die dem Erbe Erhards verpflichtet ist und sich für die soziale Marktwirtschaft engagiert.

Die Stiftung wirkt immer etwas aus der Zeit gefallen, nicht zuletzt, weil dort über Jahre – gefühlt – viele ältere weiße Herren saßen, die stets zum Besten gaben, was ein älterer weißer Herr (mit Zigarre) als Bundeswirtschaftsminister einst Kluges gesagt und getan hatte, um Deutschland nach dem Krieg in ein wahres Wirtschaftswunder zu führen. Diese Woche war es anders, was an Di Fabio lag und einer persönlichen Beobachtung, die er zum Besten gab. Er, Jahrgang 1954, sei in den 1960er- und 1970er-Jahren zur Schule gegangen. In dieser Zeit (1968 ff) sei den Schülern beigebracht worden, eine eigene Meinung zu haben und diese zu vertreten.

Heute lägen die Dinge anders. Das beobachte er bei seinen Töchtern. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen würden im Sinne einer Konformitätslehre des richtigen Lebens auf herrschende Auffassungen gedrillt. Wer sich für diese stark mache, der, so hieße es, zeige Haltung, was allgemein gutgeheißen würde. Eine eigene Meinung aber hätte derjenige nicht. Das würde nicht mehr trainiert.

Man kann sich das durch den Kopf gehen lassen und aus Jahren eigener Beobachtung tatsächlich erkennen, dass Konformität in den Bildungsanstalten von heute sehr gefragt ist. Man kann sich bei Jugendlichen und Studenten auch erkundigen, was zugegebenermaßen keine repräsentative Umfrage ist, sondern anekdotisch an die Sache herangeht. Doch schon das fördert erstaunlich viel Zustimmung zutage. Eine politisch korrekte Haltung werde belohnt, eine eigene Meinung sei weniger erwünscht, wichtig sei Engagement für die „richtige“ Sache. Sich an Lehrkräften zu reiben, sich darin auszuprobieren, intelligent zu provozieren, auch mal gehörig über die Stränge zu schlagen, um sich dann wieder zusammenzuraufen oder einen Kompromiss zu finden, das ließe man lieber bleiben. Punkte gebe es dafür jedenfalls nicht.

Und genauso ginge es an den Universitäten in den Seminaren weiter. Am besten führen jene, die mit einer gewissen „Schulintelligenz“ ausgestattet seien und schon vorher wüssten, was Lehrkräfte oder Dozenten gerne hören wollten.

Vor einigen Jahren publizierte der Yale-Dozent William Deresiewicz ein vielbeachtetes Buch mit dem provokanten Titel: „Excellent Sheep“. Gemeint waren die Elitestudenten der Ivy-League, die zwar hervorragende Ergebnisse produzierten, das kritische und kreative Denken allerdings nie gelernt und eigene Wertvorstellungen nicht entwickelt hatten.

Wenn die Jugendlichen von heute die Welt von morgen gestalten, dann stimmt diese allseits beobachtete, vorauseilende Anpassung nachdenklich. Wie dann die Zukunft aussehen mag? Die Antwort darauf wäre sicher mindestens eine weitere Kolumne wert.

22. Mai 2021

Stamokap 2.0

Es herrscht Aufbruchstimmung in Deutschland. Restaurants, Theater und Museen öffnen wieder. Und mehr Menschen befassen sich wieder mit Themen, die ihrer Meinung nach jenseits von Corona endlich angegangen werden müssten. Das tat diese Woche auch ein gewisser Dr. Sasse in einem sehr bekannten Podcast.

Dr. Sasse ist ein Münchner Unternehmer, dessen Firma, die Dr. Sasse AG, im größeren Stil Facility Management im In- und Ausland betreibt. Das klingt vornehmer, als es ist. Der Großteil seiner 6500 Mitarbeiter sind Putzkräfte und Hausmeister, die er zum Mindestlohn von 11,15 Euro beschäftigt und mit denen er 260 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet. Bis vor der Coronakrise war die Gruppe auf Wachstumskurs. Will sagen: Schlecht ging es dem Unternehmen in den vergangenen Jahren nicht.

Weil Dr. Sasse auch noch Präsident der IHK für München und Oberbayern ist, fühlt er sich wohl bemüßigt, sozialpolitisch zu fachsimpeln. Und das ging so: Von den 11,15 Euro, die er bezahlt, könnten die Menschen selbst bei einer 40-Stunden-Woche nicht leben. Das liege daran, dass der Staat Sozialabgaben einbehalte, die das Brutto schmälern, auch wenn sie den Arbeitnehmern als Sozialleistungen wieder zugutekommen. Wegnehmen und wiedergeben, das findet Dr. Sasse eine fortwährende Demütigung. Man müsse darüber nachdenken, die Sozialabgaben für Niedriglöhne gar nicht mehr zu erheben. Der Staat solle sich dafür ein Modell ausdenken.

Hier wäre mal eine andere Idee: Man könnte Dr. Sasse fragen, wie hoch das Gehalt ist, dass er sich selbst bezahlt, und darüber hinaus sein Gewinn. Und durchrechnen, was es für ihn persönlich bedeuten würde, wenn er seiner Belegschaft etwas mehr als den seiner Meinung nach so demütigenden Mindestlohn bezahlte. Nun wird Dr. Sasse mit dem Markt argumentieren, auf dem sich höhere Löhne bei den Kunden nicht durchsetzen ließen. Da würde er sofort aus dem Markt gedrängt, was nicht ganz falsch ist. Aber: Er könnte einen Teil der höheren Löhne auf auf eigene Rechnung nehmen.

So aber denken er und viele Unternehmer nicht. Lieber soll der Staat die Sache mit den niedrigen Löhnen richten, Gehälter aufstocken oder Sozialabgaben streichen. Warum eigentlich der Staat? Damit die Unternehmer fein heraus und trotzdem sozial sind? Man hätte von jemandem, der mit solchen Ideen aufwartet, auch etwas anderes erwarten können. Etwas dass er als Unternehmer freiwillig etwas mehr zahlt – nicht zulasten seiner Wettbewerbsposition, sondern zulasten eines Teils seines Gewinns. Denn man könnte auch behaupten, dass einen Teil der „Demütigung“ einer Belegschaft durch Niedriglöhne die Unternehmer selbst zu verantworten haben, um dann – nach Dr. Sasse – auf Kosten des Staates sozial zu sein. Das ist unglaubwürdig.

8. Mai 2021

Im Busch

Bitterkalt hat sich der Mai angelassen. Es könnte einem die Frühlingslaune verderben, wären da nicht die ersten Blüten an Rhododendronbüschen in Parks, Wäldern und Vorgärten zu sehen. Sie lassen sich durch das Wetter nicht beirren.

Doch richtig genießen darf man deren Anblick neuerdings wohl nicht mehr. Denn eifrige Naturschützer haben sie nun auf ihre Streichliste gesetzt. Warum? Die Büsche böten für Insekten keine Nahrung und nähmen jenen Pflanzen, die dies täten, den Raum. Roden soll man die Rhododendren deutschlandweit. Vernichten. Mit dem Argument der bedrohten Biodiversität, so hoffen die Hardliner offenbar, würde sich die Politik ihrer Forderung schon nicht verschließen.

Was derzeit dem Rhododendron widerfährt, ist hierzulande nichts Besonderes. Immer neue Verbotsdebatten jagen durch die Republik, vielleicht, weil sich so viele Menschen durchaus ernsthaft engagieren, darunter nicht nur Natur-, Tier- und Klimaschützer. Betroffen ist derzeit neben den Rhododendren auch der Kirschlorbeer, ein „Verbrechen an der Natur“. Noch bevor diese beiden Pflanzen ganz verschwinden, wird das Nächste kommen. Morgen könnten es wieder Düngemittel und Fleisch sein oder Windräder oder das Autofahren in den Innenstädten und das innerdeutsche Fliegen. Das Herumtollen in den Dünen, das wir früher im Sommer noch durften, geht so oder so nicht mehr. An Silvester soll es keine Böllerei mehr geben. Und, und, und.

Nun ist das alles nicht neu. Mit der Forderung nach Verboten hat sich der staatsgläubige Mitteleuropäer nie besonders schwergetan. In Deutschland allemal. Es zählt nicht, dass dabei die Freiheit immer ein kleines Stückchen mehr unter die Räder gerät, sondern dass alle gleichbehandelt werden, weil Verbote nun mal von oben kommen. Genau das macht sie für jene, die sich einem Anliegen so vehement verschreiben, attraktiv. Neu ist aber, dass sich vor dem Hintergrund der – unzweifelhaften – Bedrohung der Natur durch den Menschen für jedes noch so unsinnige Ansinnen ein offenes Ohr findet. Da ist – im aktuellen Fall des Rhododendrons – offenbar auch nicht relevant, dass es unendlich viele andere Möglichkeiten gäbe, Biodiversität zu fördern.

Betrachtet man in diesem Frühling bei stürmischen Winden also die beginnende Blütenpracht in den Vorgärten der Republik, die vom Sommer kündet, ist erstmals Wehmut mit dabei. Wird es den Verbotsfetischisten gelingen, die leuchtenden Rhododendren ihren Liebhabern zu entreißen, die sie über Jahre gehegt, gepflegt und gezüchtet haben? Und während der Blick von Pflanze zu Pflanze streift, entdeckt man hier und da eine schwarze Kugel, die summt und brummt und sich in einem der weißen Kelche niederlässt. Es ist eine Hummel. Sie ist früh im Jahr unterwegs. Im Sommer werden auch die Schmetterlinge kommen.

24. April 2021

Moneyball

Genau eine Nacht und zwei Tage stand die alte Fußballwelt unter Schock, sollte doch nach amerikanischem Vorbild noch dieses Jahr eine neue Fußballwelt entstehen. Eine Fußballwelt, bestehend aus 15 Spitzenklubs, die in einer eigenen Elite-Liga vermeintlich besseren Fußball spielen und vor allem noch viel mehr verdienen würden.

Das Unisono des Entsetzens in der Branche folgte prompt: Gegeißelt wurde die schier unendliche Gier der Separatisten, von der Zerstörung des Fußballs war die Rede, sogar der britische Thronfolger mischte sich ein. Prompt haben sich die Initiatoren zurückgezogen. Das Projekt liegt erst einmal auf Eis. Tot aber ist die Idee eines alternativen Wettspielmodus neben dem Angebot des europäischen Fußballverbands Uefa sicher nicht. Und das hat einen einfachen Grund.

Die Uefa ist Monopolanbieter. Und Monopole können für potente Wettbewerber sehr anziehend sein. Denn es gibt so etwas wie eine Monopolrente, die hoch und ungerecht ist, weil Monopole aufgrund des fehlenden Wettbewerbs nicht ihre Abnehmer, sondern nur den Erhalt ihrer eigenen Marktmacht im Blick haben, um diese weiterhin zu Geld zu machen. Es entspricht reiner Marktlogik, dass genau dieser Wettbewerber auf den Plan ruft.

Mit ihrem Monopol hat Uefa die Kommerzialisierung des Fußballs derart vorangetrieben, dass daraus genau jenes von Gier getriebene Milliardengeschäft wurde, das sie den Super-League-Initiatoren nach deren Vorstoß lauthals vorwarf und das die Fans so auf die Palme brachte.

Als bedürfte es dafür noch des Beweises, hat die Uefa aus einzig finanziellen Gründen die Ausweitung der Champions-League auf 36 Teilnehmer bekanntgegeben, um damit neue Milliarden einzusammeln, die am Ende die Fans teuer bezahlen.

Doch hat das Uefa-Monopol eine viel dunklere Vorgeschichte: Die Entstehung des Zwei-Klassen-Fußballs hat der Verband mit seiner Champions League erst so richtig befördert. Geld verteilt er nicht nur an die eigenen Funktionäre, sondern am liebsten nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Selbst auf die Einhaltung ihrer eigenen Fair-Play-Regeln gibt die Uefa nichts, sondern lässt Clubs, die dagegen offensichtlich verstoßen, ungeschoren davonkommen. Und für den Nachwuchs bleibt auch nicht viel übrig. Der Uefa geht es ausschließlich um Geld und sonst gar nichts.

Die Ironie des Ganzen: Just der 48-Stunden-Wirbel um das Projekt Super League förderte die Scheinheiligkeit der Uefa erst richtig zutage, die sich diese Woche allzu gerne als die Gute im Big Money Game des Fußball positioniert hätte. Nur ging das deutlich daneben. So offenbarten ausgerechnet die fürs Erste vereitelten Pläne für eine fußballerischen Eliteveranstaltung die Schwächen der maroden europäischen Fußballwelt. Und da steht die Uefa so ziemlich mittendrin.

10. April 2021

Das Einjährige

In der Corona-Krise ist der Bildungsgewerkschaft GEW kein Vorschlag zu weit hergeholt.

Diese Woche hat sie mit dem Schnellschuss, die Abiturprüfungen notfalls ausfallen zu lassen, einen medialen Wirbel ausgelöst. Die GEW ist nicht irgendwer, immerhin vertritt sie rund 280 000 in pädagogischen Berufen arbeitende Männer und Frauen von der Kindertagesstätte über die Schulen bis zu den Hochschulen. Man könne statt der Abiturprüfungen die Leistungen aus dem Unterricht zur Grundlage der Notengebung heranziehen, argumentiert sie. Nur hat der seit einem Jahr in normaler Form kaum mehr stattgefunden. Doch so weit wird bei dieser Gewerkschaft nicht gedacht.

Aus der GEW-Forderung wird wohl nichts. Zum Glück. Ein solides Abitur nach einem schwierigen Corona-Jahr soll den Heranwachsenden nicht auch noch genommen werden.

Tief blicken lässt der Vorschlag trotzdem – und zwar darauf, welche Rolle die GEW spielt und wie. Am liebsten wäre ihr gewesen, die Schulen hätten bei einer Inzidenz von über 100 gar nicht erst geöffnet. Stets warnt sie vor der Überforderung der Lehrer, denen auf keinen Fall mehr Stunden zugemutet werden dürften. Sogar die Selbsttests der Kinder und Jugendlichen in Klassenräumen sehen Teile der Gewerkschaft kritisch. Deren Beaufsichtigung sei nicht Teil der „Dienstpflicht“.

Von einer Gewerkschaft ist nicht viel anderes zu erwarten als Klientelpolitik. Ärgerlich ist dabei allerdings, dass die GEW – reichlich unverfroren – stets im Namen der Schülerschaft argumentiert. Und das auch dann noch, wenn sie ausschließlich an die Lehrerinnen und Lehrer denkt. Sie gibt sich als Fürsprecherin für Chancengleichheit, um ihre Legitimationsbasis zu verbreitern. Inzwischen vereinnahmt sie auch noch die Eltern. Für Schülerschaft und Eltern aber hält sie in dieser Krise bisher nichts parat. Im Gegenteil: Wären ihre Vorschläge eins zu eins umgesetzt worden, hätten Schülerinnen und Schüler sowie die Eltern das Nachsehen gehabt. Die Gewerkschaft hätte sie zugunsten ihrer Klientel einfach im Stich gelassen.

Bei der GEW ist immer viel von Bildungsgerechtigkeit die Rede. Was aber von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer angeboten werden könnte, um die Bildungsrückstände wieder aufzuholen, die die Pandemie vor allem für Kinder und Jugendliche aus bildungsferneren Schichten nach sich zieht, wird man von dieser Gewerkschaft nicht erfahren.

Konstruktive Ideen zur Bewältigung der Corona-Krise, die auch eine Bildungskrise ist, sind ihr gar nicht erst eingefallen. Die Krise, heißt es bei der GEW, mache die Schwächen unseres Bildungssystems einmal mehr offensichtlich. Die Krise fördert allerdings noch anderes zu Tage: dass es nämlich dieser Gewerkschaft bestimmt nicht um die Schülerinnen und Schüler und ihre Chancen und auch nicht um Bildungsgerechtigkeit geht.

27. März 2021

Alles

Erstmals erscheint es möglich, dass eine grüne Partei die Richtlinienkompetenz in diesem Land erringt. Die Umfragewerte nach dem Regierungsversagen in der Coronakrise sprechen dafür.

Und tatsächlich haben die Grünen das nicht schlecht gemacht – zumindest das Spitzen-Duo aus Annalena Baerbock und Robert Habeck. Sie haben in den Pandemiezeiten weitgehend den Mund gehalten, sich jede Besserwisserei verboten, um die wundersame Zustimmungsvermehrung, die sich hierzulande seit ein paar Jahren zeigt, nicht durch eine unpassende Bemerkung wie etwa seinerzeit den „Veggieday“ zu stören. Selbst nach der spektakulären Entschuldigung von Angela Merkel haben sie auf Polemik verzichtet.

Inzwischen kann man sogar lesen, wie sie sich die Republik nach den Bundestagwahlen vorstellen. Ihr Wahlprogramm ist veröffentlicht und mit „Alles ist drin“ überschrieben. Wenn es so weitergeht, könnte wirklich alles drin sein. Sogar das Kanzleramt. Viele Wähler werden wohl geneigt sein, sich – womöglich erstmals – der Idee einer grünen Bundesregierung zuzuwenden.

Ungeachtet des grünen Glanzes könnte es sich in den kommen Wochen und Monaten gleichwohl lohnen, genauer hinzuhören. Denn hinter dem lässigen Auftritt des Spitzen-Duos Baerbock und Habeck, die so tun, als gäbe es zwischen ihren im Wahlprogramm versprochenen unzähligen, ja, fast märchenhaften Vorhaben keinerlei Zielkonflikte, verbirgt sich ein überzeugter Etatismus, eine tiefes Vertrauen darein, dass die Regierung, sofern sie denn eine grüne wird, es besser weiß und besser kann. Verbrämt wird das mit dem Begriff der „sozial ökologischen Neubegründung“, die nichts anderes bedeutet als eine Kaskade von Regulierungen, mit denen die Grünen endlich das erzwingen wollen, wofür sie seit Jahren kämpfen: einen ökologischen Staat, in dem die Regierung bestimmt, was gutes Leben ist.

Wie etatistisch grüne Politiker wirklich denken, wenn es an die praktische Umsetzung ihrer teilweise durchaus erstrebenswerten Ziele geht, war vor einigen Tagen erst in Berlin zu beobachten. „Wir holen uns unsere Stadt zurück – und zwar Haus für Haus“, donnerte die grüne Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus Antje Kapek ohne Sinn und Verstand ihren Parteikollegen entgegen und interpretierte damit die im Wahlprogramm angekündigte grüne Wohnungspolitik unmissverständlich: Es geht um rigide Mietbremsen, einen erweiterten Mieterschutz, massenhaft staatlichen Wohnungsbau und – in Berlin – um Enteignungen.

In Berlin also haben die Grünen schon mal das Visier geöffnet, wie sie Politik verstehen. Wer die Partei im Herbst wählen will, der sollte auch diese Dinge hören.

13. März 20201

Eliten

Vor ziemlich genau sechs Jahren erschien der Roman Unterwerfungvon Michel Houellebecq. Er hat seine Leserschaft polarisiert. Literatur sei nicht Realität, sagten seine Befürworter, sondern eine – in diesem Fall – dystopische Versuchsanordnung, in der Houellebecq aus der Sicht eines Intellektuellen die Abschaffung der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie durch eine französische Muslimbruderschaft beschreibt. Vielen jedoch ging diese Versuchsanordnung zu weit, war zu radikal, zu provokativ, zu unrealistisch. Vielleicht auch zu bedrückend.

Beklemmend an jenem Buch ist sicher nicht allein die Vorstellung, irgendwann in einer islamischen Republik leben zu müssen. Beängstigend ist vielmehr, wie der Autor die Motivlage der geistig-kulturellen Elite in Szene setzt: zutiefst verführbar durch das Autoritäre, die Macht, um daraus Vorteile zu ziehen und demokratische Überzeugungen kurzerhand über Bord zu werfen.

Sechs Jahre später liefert nun die amerikanische Publizistin Anne Applebaum dazu eine höchst persönliche gesellschaftspolitische Analyse. Die Verlockung des Autoritären heißt ihr Buch auf Deutsch, das dem Aufschwung autoritärer Tendenzen in westlichen Demokratien nachspürt. Die Autorin zeigt dabei auf die wohl verletzlichste Stelle unserer Gesellschaften: die Anfälligkeit ausgerechnet der intellektuellen Eliten für das Autoritäre, die Houellebecq seinerzeit so trefflich beschrieb.

Es gab in den vergangenen Jahren viele Autoritarismus-Studien. Sie brachten hervor, was man so oder so kaum glauben mag, dass nämlich in jedem von uns der Hang zum Autoritären schlummert und dass er bei etwa einem Fünftel der Bevölkerung relativ leicht zu wecken ist. Die Debatte hat sich dabei weitgehend auf jene Teile der Bevölkerung konzentriert, für die das Autoritäre als Alternative zum Demokratischen vermeintlich attraktiv sein könnte: die Enttäuschten oder gar Abgehängten, die Verlierer der globalisierten Moderne.

Wenn Applebaums Beobachtungen stimmen, ist es viel schlechter um uns bestellt: Es sind die intellektuellen Eliten, die den allgemeinen Hang zum Autoritären für Demokratien so bedrohlich machen. Denn auch oder gerade in ihrer Schicht ist er tief verwurzelt. Autoritäre Bewegungen werden von oben, nicht von unten organisiert. Sich mit dem Autoritären zu arrangieren, wenn nicht sogar zu verbünden, es noch zu befördern, ist fatalerweise gerade für die Eliten von Vorteil. Denn es ermöglicht ihnen gesellschaftlichen Machtzuwachs.

Applebaums These zugespitzt: Ohne die intellektuellen Eliten ist der jüngste Aufstieg autoritärer Bewegungen nicht denkbar. Wieder einmal, denkt man sich da. Ein Blick in die Geschichte zeigt vielfältig, dass diese Erkenntnis nicht neu ist, aber leider immer noch wahr und so beängstigend logisch.

27. Februar 2021

 

Grenze-Werte

Öffnen oder nicht öffnen – das ist die Frage, die am kommenden Mittwoch zwischen der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten verhandelt wird. Die unlängst festgelegten Inzidenzwerte der Kanzlerin machten eine Verlängerung des Lockdowns zwingend – wohl mindestens bis Ostern. Gleichwohl zeichnen sich vorsichtige Lockerungen ab. Das passt nicht zusammen.

Doch passt in der Corona-Krise noch viel mehr nicht zusammen. Die erste Pandemie klingt ab, eine zweite, bald wohl dritte baut sich auf. Die Impfdosen wurden so spät bestellt, dass sie die Verbreitung von Corona-Mutanten nicht mehr bremsen können. Dazu kommt, dass tausende Dosen ungenutzt bleiben. Bedenklicher noch: Die Bevölkerung, die sich 12 Monate lang en gros gehorsam an die vorgegebenen Beschränkungen gehalten hat, wird unruhig. Dank der vorausschauenden, restriktiven Politik der Bundeskanzlerin sei Deutschland vergleichsweise glimpflich durch die pandemische Krise gekommen, sagen jetzt die Mahner. Deshalb müsse man durchhalten. Aber stimmt das überhaupt?

Der glimpfliche Verlauf liegt sicher nicht an Merkels vermeintlich kluger Corona-Politik. Allzu klug ist ihre Strategie nämlich nicht, navigiert ihre Bundesregierung doch noch genauso durch das Infektionsgeschehen wie noch vor einem Jahr, als hätte sie in den vergangenen zwölf Monaten nichts lernen können. Im internationalen Vergleich glimpflich davongekommen ist Deutschland vor allem aufgrund der enormen Staatsgläubigkeit seiner Bürger. Wenn der Staat etwas vorschreibt, dann halten sie sich daran. Diese bürgerliche Staatsgläubigkeit hat Tradition. Man könnte fast sagen, sie gehört zur DNA des zentraleuropäischen Bürgerdaseins. Das ist für Regierungen ungemein praktisch. Deutschland ist, wenn Kollateralschäden des Staatshandelns mit Geld kompensiert werden, leicht zu regieren.

Dass selbst der Staat mitunter überfordert ist, merken die des Lockdowns müden Bürger jetzt. Sie sind des Regierens über die Verbreitung von Angst und Schrecken überdrüssig. Mehr noch, immer weniger Bürger können nachvollziehen, warum trotz unterschiedlichen Infektionsgeschehens alles überall gleich gehandhabt werden soll. So kann und wollen sie nicht leben.

Der anschwellende Unmut hat sich bis in die obersten Regierungskreise herumgesprochen. Merkel hat angeblich eine Strategie, über die wir am Mittwoch mehr erfahren werden. Bayerns Markus Söder ist derweil vorgeprescht und hat noch vor der nächsten Coronarunde konkrete Öffnungsschritte angekündigt. Er weiß, warum: Die Bürger hierzulande sind zwar keine Revolutionäre. Doch sie wissen genau, ab wann sie sich den Vorschriften einfach entziehen. Die Staatsgläubigkeit hat sogar bei den so braven Deutschen ihre Grenzen. Da bleibt selbst Merkel zum Öffnen keine Alternative.

 

 

 

13. Februar 2021

"Ich mag Bitcoin irgendwie."

Wild geht es an den Weltbörsen zu und zunehmend unübersichtlich. Das liegt unter anderem an einem ganz neuen Phänomen. Nicht mehr Unternehmensnachrichten bestimmen die Aktienkurse oder – analytisch weitgehend fundierte – Anlageempfehlungen der Finanzinstitute. Nein, an den Börsen regieren zunehmend die „Influencer“. Sie analysieren nichts, sondern begründen ihre Empfehlungen meist – ja, wie eigentlich? – aus dem Bauch heraus. Prominentestes Influencer-Beispiel: der Turbo-Unternehmer Elon Musk, der den Kurs der Kryptowährung Bitcoin mit Twitter-Nachrichten nach oben trieb. Unlängst ließ er dann noch alle wissen, dass sein Automobilkonzern Tesla 1,5 Milliarden Dollar in Bitcoin angelegt hat – und allein durch diesen Tweet wurde er noch einmal reicher, genauso wie die, die ihm gefolgt sind. Geht es dort noch mit rechten Dingen zu?

Allemal heikel ist die Frage danach, wie es sich verhält, wenn die Meinungsmacher selbst von ihrer Meinungsmacht profitieren, sich vor einem Tweet in bestimmten Papieren positionieren und dann mit ihrem Gezwitscher den Kurs genau jener Aktien beflügeln. Reguliert sind derlei Handhabungen nicht. Wie auch? Das Phänomen ist schließlich neu.

Früher gab es mal eine „Anlagetechnik“, die sich Frontrunning nannte. Börsenmakler zogen mit Großaufträgen ihrer Großkunden an den Markt. Da sie aufgrund der Aufträge die künftige Kursentwicklung einer Aktie abschätzen konnten, investierten sie kurz vor Platzierung der Kunden-Order erstmal auf eigene Rechnung oder auf die ihres Arbeitgebers und „erwirtschafteten“ beträchtliche Gewinne. Seit 2004 ist diese Variante des Insiderhandels verboten und wird bestraft. Nur im Hochfrequenzhandel machte diese Börsenpraktik vor ein paar Jahren noch einmal Furore.

Vor gut zehn Jahren trieben es ein paar Finanzjournalisten reichlich unverfroren, schrieben Kurse „nach oben“ und kassierten im Hintergrund kräftig mit. Die Staatsanwaltschaft beschuldigte gut 30 Börsenbriefschreiber der Marktmanipulation.

Auch Influencer Musk hat mit seinen Tweets die Kurse einzelner Titel befeuert, neben Bitcoin die Kryptowährung Dogecoin sowie den Messanger-Dienst Signal. „Ich liebe Etsy irgendwie“, war ein weiterer Tweet. Und wieder schoss der Kurs der Aktie in die Höhe. Vielleicht hat seine Frau oder ein Freund vorher rein zufällig in Etsy-Aktien investiert. Wer weiß das schon, wie es die Börsen-Influencer mit eigenen Investments halten.

Derzeit ist vor allem das Produkt-Marketing von Influencern im Visier der Gesetzgeber und soll künftig aus Gründen des Verbraucherschutzes reguliert werden. Bald wird sich die Legislative wohl auch für den neuen Typus des Bör

 

 

Samstag, 30. Januar 2021

Zäsuren

Man kann Sterne sprechen. Und auch Unterstriche. Nachrichtensprecher und Moderatoren tun es inzwischen und sonst alle, die einer geschlechterneutralen Sprache das Wort reden. Was die Autorin dieser Zeilen augenscheinlich nicht tut, sonst hätte sie Nachrichtensprecher*innen oder Moderator*innen geschrieben.

Unübersehbar geht es an dieser Stelle um das Gendersternchen, diese kleine Applikation am Ende eines generischen Maskulinums, hinter den dann noch die weibliche Form gesetzt wird, das „innen“ also. Die Sprechanweisung des Sternchens ist denkbar simpel: Mit einer Zehntelsekunde Verzögerung, einer klitzekleinen Aufmerksamkeitszäsur stolpert das „innen“ hinterher.

Die Argumente dafür sind hinreichend diskutiert: Wenn Sprache das Denken prägt, dann befördert die Benutzung des generischen Maskulinums die unbewusste Voreingenommenheit in unseren Köpfen. Jene nämlich, dass es in unserer Gesellschaft vor allem um die Männer geht.

Nur, stimmt das eigentlich? Wer sagt denn, dass man, wenn von Lehrern im generischen Maskulin die Rede ist, wenn also Lehrerinnen auch gemeint sind, sofort ein ausschließlich männliches Kollegium vor Augen hat? Genau das ist sicher nicht der Fall. Denn das Gros des Lehrpersonals ist weiblich. Bei Ingenieuren verhält es sich anders. Weil Ingenieurinnen noch immer in der Unterzahl sind, wird man bei Gebrauch des Maskulinums tatsächlich eher an Männer denken. Und wenn man von Flugbegleitern spricht, kommt vielen sicher erst einmal die Armada von Stewardessen in den Sinn, die ihre Rollkoffer in Richtung Ausgang ziehen. Hingegen würde bei Räubern, Dieben, Betrügern, Schlägern, Rechtsradikalen, Steuerhinterziehern oder Alkoholikern wahrscheinlich kaum jemand sofort an Frauen denken. Genauso wenig allerdings, wenn von „dem Vorstand“ gesprochen wird, weil Leadership in Deutschlands Unternehmen noch immer männlich ist. Ob allein das Wort „Vorständ*innen“ daran etwas ändern würde?

Nicht die Sprache prägt die Wahrnehmung des Geschlechts, sondern die Erfahrung. Es gibt mehr männliche Kriminelle als weibliche, mehr Männer in Technikberufen, mehr Frauen in der Pädagogik der Sekundarstufe 1 und 2. Es wäre schön, wenn sich die Geschlechter gleichmäßiger auf die Berufe und auch die Macht verteilten. Doch erreicht man das mit einer geschlechterneutralen Sprache? So lange das Gehirn mehr männliche Monteure sieht als weibliche, wird auch ein Monteur*innen nichts daran ändern. Es gibt viele Möglichkeiten, Geschlechtergerechtigkeit in einer Gesellschaft zu befördern. Ein erzwungenes Sternchen gehört sicher nicht dazu. Zumal „frau“ bei so manchem generischem Maskulin tatsächlich lieber außen vor bleibt.

Samstag, 16. Januar 2021

Mea (ex)clulpa

Köln ist eine zutiefst katholische Stadt. Und Kardinal Rainer Maria Woelki ihr oberster, zutiefst konservativer Katholik. Im größten Bistum der Bundesrepublik mit rund zwei Millionen Mitgliedern spitzt sich derzeit ein Konflikt zu, den die Kirche so gar nicht gebrauchen kann. Selbstherrlich hält Woelki ein Gutachten zum Missbrauch in der Diözese zurück, das seine Deutungshoheit über das Kirchengeschehen untergraben könnte. Das Ganze toppt er mit dem Versuch, ausgerechnet Journalisten als Gegenleistung für immerhin ein wenig Einblick zur Verschwiegenheit zu verpflichten, was an Widersinnigkeit kaum zu überbieten ist. Nicht nur in Köln ist die Aufregung groß.

Man könnte diesen neuen Vorfall in der unendlichen Geschichte des massenhaften klerikalen Missbrauchs und seiner Vertuschung genüsslich zu einem weiteren kirchentypischen Großskandal aufblasen. Man kann den Fall allerdings auch unter dem Aspekt eklatanten Führungsversagens analysieren, das schwachen Führungspersönlichkeiten eigen ist, von denen sich nicht nur in der Kirche so viele finden. Denn bei ihnen paart sich Überheblichkeit mit mangelnder Souveränität, eine teuflische Kombination, die einen offenen Umgang mit dem eigenen Führungsversagen auf geradezu selbstzerstörerische Weise vereitelt. Besonders anfällig dafür sind wert- und strukturkonservative Organisationen, zu denen die katholische Kirche an vorderster Stelle gehört.

Warum ist das so? Übertriebener Wert- und Strukturkonservatismus führt dazu, dass bei der Auswahl von Personal für Führungspositionen vor allem die Linientreue den Ausschlag gibt und die eigentlich erforderlichen Führungsqualitäten in nachgerade fataler Weise in den Hintergrund treten. Mehr noch, sie sind meistens gar nicht gewünscht. Geistige Unabhängigkeit, Innovationsfreude und vor allem Charisma gelten in solchen Organisationen als Störeigenschaften, die dem Konservatismus zuwiderlaufen. Diejenigen, die Positionen auf derart patriarchalische Weise besetzten, sind sich dessen zudem meist überhaupt nicht bewusst. Dieses Strukturphänomen kennzeichnet nicht nur die Kirche, es tritt häufig genug auch in Unternehmen auf. Dort allerdings wird es – mit welchem Ergebnis auch immer – auf Dauer vom Wettbewerb korrigiert.

In der katholischen Kirche ist das anders. Da gehen auch die Geschichten anders aus. Nämlich so wie bei Woelki. Ihm ist die Luft ausgegangen. Er hat sich inzwischen hilflos an die nächsthöhere Institution gewandt – den Vatikan. Ausgerechnet der soll prüfen und richten. Eine Lösung aber sollten die Kölner Katholiken vom Vatikan besser nicht erwarten. Sollte der Kölner Kardinal tatsächlich zur Buße verdonnert und ersetzt werden, folgte ihm ein anderer, der nach gleichen Kriterien ausgewählt wäre wie sein Vorgänger. In der katholischen Kirche geht das seit mehr als einem Jahrtausend so.

Samstag, 2. Januar 2021 

Das Wesentliche 

Furios sollte das Beethoven-Jahr werden, glanzvoll und strahlend. Aber genau das war es nicht. Wir haben von der Musik dieses Jahrhundertgenies im 250. Jahr nach seiner Geburt nicht allzu viel gehört. Schon gar nicht live. Statt eines rauschenden Fests, das mit unzähligen Events so hingebungsvoll geplant worden war, blieben die Sitzreihen leer, die Saaltüren verschlossen. Ausgerechnet im Beethoven-Jahr dominierte die Stille. Wir haben seine Musik auf Streaming-Plattformen und in Funk- und Fernsehen mancherorts verfolgen können – meist allein. Aber wir konnten sie kaum gemeinsam erleben. Für die kurze Phase der vorsichtigen Öffnung von Konzertsälen im Spätsommer verschwand so mancher erwarteter Genuss hinter dem Erschrecken über spärliche Saalbesetzung, dünnen Applaus und der aufs Peinlichste bedachten Einhaltung von Hygienekonzepten. Ein Fest sieht anders aus.

Beethoven gilt als Komponist der Ideen und Ideale. Er war ein Tonkünstler, der in seiner Musik die gesellschaftlichen Themen der historischen Umbruchzeit, in der er lebte, verhandelte und dabei in der Lage war, sie derart auf das Wesentliche zu verdichten, dass seine rund 240 Werke, seine Sinfonien, Klavierkonzerte und Streichquartette ihre Aktualität nie verloren haben. Mit seiner Musik hat er die Zeitläufte damals kommentiert und tut es bis heute – unerschütterlich hoffnungsfroh, im vollen Vertrauen in das Entwicklungspotential des Menschen und seine Kraft, Dinge zum Positiven zu wenden. Die Urgewalt seiner Musik hätten wir dieses Jahr gut gebrauchen können, den Trost, den man in ihr finden kann, den Humor, den Witz, nicht nur die Schwere, gerade auch deren Leichtigkeit. Doch es sollte alles anders kommen. Was also bleibt?

Das Bemerkenswerte an diesem in der Musikwelt so ungewöhnlichen Jubiläumsjahr ist tatsächlich die Stille. Sie vereitelte jeden Versuch, die Werke dieses singulären Komponisten bis zum Abwinken zu reproduzieren und seine Persönlichkeit unter dem Kitsch und Kommerz eines zum Popstar verklärten Genies zu begraben.

Mehr noch, ausgerechnet durch die Stille im Beethoven-Jahr wird das wohl dringlichste Anliegen des Komponisten augenfällig: die Erzeugung von Gemeinsinn durch gemeinschaftliche ästhetische Erfahrungen, die gar nicht unbedingt Beethovens Werke selbst oder nur klassische Musik zum Inhalt haben müssen, die aber berühren, begeistern, aufwühlen, verstören und versöhnen können. Beethoven wusste darum, wie wichtig solche Gemeinschaftserlebnisse für den Zusammenhalt einer Gesellschaft sind. Genau das hat er in seinen Symphonien besungen und als Künstler in seinen Akademien organisiert. Für jedermann. Manchmal begreift man erst, wenn etwas nicht ist, was es ist: Das gemeinschaftliche, direkte, ja, das physische Erfahren von Kunst ist nicht weniger als eine Frage des sozialen Überlebens.

Samstag, 19. Dezember 2020

Wellenbrecher 

Die Untergangspropheten – vorzugsweise Soziologen – haben seit einigen Wochen ein neues Thema. Und sie haben es – noch schneller als sonst – bereits mit Namen versehen: Generation Corona. Kaum mehr ein halbes Jahr Pandemie-Krise haben sie benötigt, um nicht nur eine ganze Generation zu identifizieren, sondern ihr auch schon die Zukunftschancen abzusprechen. Corona erschwere den jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 20, vielleicht auch 23 Jahren die Übergänge von der Schule in die Ausbildung und von Ausbildung und Studium in den Beruf. Nicht nur, dass diese jungen Menschen deshalb zutiefst verunsichert seien. (Sind sie das wirklich?) Sie häuften mit der Virus-Krise zudem Warte- und Leerzeiten an, die ihnen später im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt gegenüber den wieder unbeschwert Nachrückenden kaum mehr aufzuholende Nachteile verschafften. Verlorene Zeit – verlorene Generation.

Stimmt das eigentlich? Kann man schon jetzt davon sprechen, dass eine ganze Generation verloren zu gehen droht?

Sicher nicht. Denn es verhält sich keinesfalls so, als würde diese fast verloren gegebene Generation durch Corona nichts lernen. Im Gegenteil: Sie lernt viel Wichtigeres als das, was auf den Lehrplänen der Schulen, Berufsschulen oder gar Universitäten steht. Sie lernt, dass nichts wirklich sicher ist im Leben und dass es sich lohnt, in Krisen kreativ zu werden. Ja, dass diese sogar die Chance bedeuten können, Wünsche und Entscheidungen noch einmal zu überdenken. Die jungen Menschen lernen eine höhere Frustrationstoleranz und mehr Flexibilität. Soll ihnen das tatsächlich zum Nachteil gereichen?

In den Recruiting-Abteilungen großer Unternehmen setzt sich zunehmend die Tendenz durch, Lebensläufe junger Menschen nicht nur nach in möglichst kurzer Zeit Erreichtem zu beurteilen, sondern in ihnen nach den Brüchen zu suchen, nach Fehlentscheidungen und Richtungswechseln. Warum? Weil nur in solchen Situationen nachweislich all das gelernt werden kann, was man später im Berufsleben tatsächlich braucht. Wer wie ein Schnellboot durch die Wellen gleitet und nicht ein einziges Mal vom Kurs abkommt, wird daran nicht reifen. Die Vorstellung, dass nur ein friktionsloser Lebenslauf ein guter ist, gilt längst als überholt.

Natürlich gibt es von Armutsrisiko und Bildungsferne betroffene gesellschaftliche Schichten, in denen die Krise jungen Menschen wirklich zusetzt. Dort wird sich die Politik etwas überlegen müssen. Aber dort sammelt sich nicht die Mehrzahl des Nachwuchses, der jetzt zum Umdenken gezwungen wird. Das Gros der jungen Erwachsenen wird sich von einer Pandemie nicht geschlagen geben und nicht nur für das Berufsleben Entscheidendes gelernt haben: Sicherheit ist längst nicht selbstverständlich. Genau das wird ihr Vorteil sein.

Samstag, 5. Dezember 2020 

Realiter 

Angst und Gier sind Kurstreiber an den Börsen. Derzeit ist viel von Gier die Rede. Mitten in der Coronakrise bewegen sich die Aktienkurse seit Wochen wieder auf Rekordniveau. Es gibt sogar einen Index, der die Gemütslage der Investoren misst: Der „Angst-und-Gier-Index“ des Nachrichtensenders CNN. In Phasen der Gi

Genaugenommen nichts. Erstens sind Aktien stets marktgerecht bewertet, denn die Papiere werden schließlich am Markt gehandelt, wo sich aus Abermillionen Käufen und Verkäufen der Preis ergibt. Und von der Realität können sich die Kurse zweitens nicht entkoppeln, denn auch der Aktienmarkt mit all seinen verschiedenen Einflussfaktoren ist real, nicht irreal. Allenfalls könnte man behaupten, die Aktienkurse hätten derzeit ein Niveau erreicht, das deutlich über einer an der Realwirtschaft orientierten Bewertung liege. Nur, woran genau bemäße die sich dann?

Wenn in der Welt die Zeichen auf Krise stehen und der Wachstumstrend versiegt, müssten eigentlich auch die Kurse fallen. Denn Unternehmen verdienen dann nicht mehr so gut. Hinter diesem vermuteten Grundzusammenhang, nach dem Börsenentwicklungen immer beurteilt werden, verbirgt sich allerdings ein sehr mechanistisches Verständnis der Aktienmarktentwicklung, das schon vor Jahrzehnten seine Gültigkeit teilweise verloren hat. Es gab und gibt immer wieder Phasen, in denen die Wirtschaft schrumpft, die Kurse aber steigen und umgekehrt.

Und was ist mit der Gier? Auch die kann man derzeit getrost in Zweifel ziehen. Es ist vor allem Kalkül, das die Kurse treibt. In Phasen hoher Liquidität und Minuszinsen gibt es kaum Alternativen, sein Geld werterhaltend anzulegen. Dazu gesellt sich die Hoffnung auf ein Ende der Pandemie durch neue Impfstoffe sowie auf einen politischen und wirtschaftlichen Neubeginn in den Vereinigten Staaten. Selten war die starke Nachfrage nach Aktien transparenter. Natürlich werden die Kurse auch wieder fallen. Nur wann – das weiß derzeit wohl niemand. Der Angst-und-Gier-Index ist dabei wenig hilfreich. Doch wenn es so weit ist, werden die Crash-Propheten wieder einmal behaupten, sie hätten alles kommen sehen, es sei die Gier gewesen.

er steigen die Kurse, in denen der Angst dagegen fallen sie. Gemessen an diesem Index sind die Anleger derzeit besonders gierig.

Gier – eine der sieben Todsünden – gilt nicht nur als allgemein verwerflich, sie ist auch niemandem geheuer. Laut wird deshalb seit längerem vor ihr gewarnt. Im Börsenjargon klingt das so: Die Aktien seien nicht mehr marktgerecht bewertet, die Kursentwicklung habe sich von der Realität entkoppelt, weil zu viel Gier die Hausse nähre. So kann man es sehen, doch was sagt uns das?

21. November 2020 

Titelei

Franziska Giffey wankt. Ihre Doktorarbeit wird erneut auf Plagiate geprüft. Es kann gut sein, dass sie den Titel bald nicht mehr führen darf. So viel Glück, wie vor gut vier Jahren der heutigen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beschieden war, die ungeachtet des Plagiierens auf 27 von insgesamt 62 Seiten ihrer medizinischen Dissertation den Zusatz „Dr.“ – aus welchen Gründen auch immer – nicht aberkannt bekam, dürfte Giffey wohl nicht zuteil werden. Dass sie den Titel nicht mehr will, hat sie öffentlichkeitswirksam bereits verkündet, um damit ihr politisches Aus zu vereiteln. Es war die Flucht nach vorn. Nicht ganz unrecht hat sie, wenn sie schreibt, der Wert ihrer politischen Arbeit heute oder morgen könne nicht nur daran bemessen werden, ob sie vor langer Zeit geschludert oder gar betrogen hat.

Wie auch immer die Sache ausgeht – für die Wissenschaft in Deutschland ist jede Zweifelhaftigkeit einer Dissertation ein Fall zu viel. Denn es steht sehr viel mehr als nur die Karriere eines Polit-Talents auf dem Spiel.

Forschung lebt von unbedingter Ehrlichkeit, ein Forschungsstandort vom Fleiß, der Akribie und Genauigkeit, der Neugierde und dem Erkenntnisdrang seiner Wissenschaftler. Dafür ist der Gebrauch von Quellen unerlässlich. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen auf Basis früherer Forschungsergebnisse und sind nur dann valide, wenn ihre Genese von allen nachvollzogen werden kann, um wiederum neue Erkenntnisse daraus zu gewinnen. Genau deswegen ist akkurates Zitieren unerlässlich. Dabei ist Wissenschaft kein Selbstzweck. Sie soll, ja, muss die Gesellschaft, im besten Fall sogar die Menschheit weiterbringen.

Dissertationen, die primär des Titels wegen geschrieben werden, sind mehr als nur ein Ärgernis. Zweifelhafte Beispiele dafür gibt es reichlich, bei denen durchaus in Frage steht, ob den Forschenden tatsächlich am Erkenntnisgewinn gelegen war. Erkenntnisgewinn braucht Zeit, häufig mehr, als zu Beginn des Vorhabens veranschlagt. Zeit, die weder Franziska Giffey noch ein Karl-Theodor zu Guttenberg bereit waren einzusetzen. Die Anfälligkeit fürs Plagiieren ist bei derartigen Unterfangen bekanntlich besonders hoch.

Eine gewisse „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“, die der Künstler Bertolt Brecht einst einräumte, weil er für seine Dreigroschenoper ein paar Lieder ohne Quellenangabe verwendete, ist kein Versehen und kein Kavaliersdelikt – schon gar nicht in der Wissenschaft. Denn sie unterminiert das Wissenschaftssystem und bringt die Forschung in Gefahr. Darin liegt das eigentliche Drama um windige Doktorarbeiten wie etwa die von Giffey, die irgendwann mal ohne eingehende Prüfung die Hürde genommen haben, deren Zustandekommen die Universitäten im Nachhinein aber gar nicht akribisch genug aufarbeiten können.

Samstag, 7. November 2020 

Eisern

Während in ganz Deutschland die Restaurants wieder geschlossen haben, herrscht nicht nur im bekannten Pekinger Ausgeh-Viertel Sanlitun reges Treiben. Kaum noch jemand trägt Maske, die Menschen sind entspannt. Im ganzen Land ist das inzwischen wieder so. Die beneidenswert niedrigen Infektionszahlen in China sind offenbar keiner geschönten Statistik geschuldet, sondern Realität. China hat – anders als der Rest der Welt – die Pandemie im Griff. Wie kann das sein?

Der Katalog an Maßnahmen dort ist weitgehend bekannt: massenhaftes Testen, bereits bevor sich Symptome zeigen. Laborengpässe gibt es dort nicht. Dazu das schnelle Abriegeln lokaler Hotspots, die eiserne Kontrolle der Quarantäne, eine konsequente Nachverfolgung von Kontakten, der kein Datenschutz im Wege steht, und dazu strikte Einreisebeschränkungen.

Entscheidend für den Erfolg ist allerdings das gesellschaftliche Selbstverständnis der mehr als eine Milliarde Chinesen, das sich in den vergangen zweieinhalbtausend Jahren herausgebildet hat. Traditionelle, ehemals konfuzianisch geprägte Ordnungsvorstellungen haben ihre Wirkungsmacht bis heute nicht verloren. Dazu gehört die hohe Akzeptanz eines zutiefst paternalistisch organisierten Gemeinwesens, das es – Konfuzius’ Lehren hin oder her – gerade im Kommunismus zu neuer Blüte brachte. Der alte, straff durchorganisierte Beamtenstaat des Kaiserreiches, dessen Tentakel sich in die hintersten Winkel der Gesellschaft erstreckten und das Leben eines jedes Einzelnen mitbestimmten, ist trotz des Untergangs der Dynastien nie verschwunden. Im Gegenteil – er ist auf unheimliche Weise noch erstarkt. Auch die Kommunisten organisierten die Gesellschaft hierarchisch höchst kleinteilig in sogenannten Einheiten. Heute sind dies Nachbarschaftskomitees. Sie verstetigten damit das Blockwart-System, das es schon immer gab, um das Verhalten der Einwohner zu kontrollieren und dadurch das riesige Reich vor dem Zerfall zu schützen. Gegen umfassende soziale Kontrolle hat das Gros der Chinesen, weil sie es kaum anders kennen, nichts einzuwenden: Wer sich an alle gesellschaftlichen Regeln hält, kann sicher und friedlich leben. Seit zweitausend Jahren definiert die Mehrheit ihr Ich im Bezug zum Wir, nicht – wie im Westen – umgekehrt.

Wenn die Kanzlerin zu Beginn des neuerlichen Shutdowns an die Disziplin eines jeden Einzelnen appelliert, wohlwissend, dass sie damit kaum die Mehrheit der Bevölkerung erreicht, sind derlei Beschwörungen in China gar nicht nötig. Die soziale DNA sorgt schon per se für Wohlverhalten, der Rest ist dann Kontrolle.

Samstag, 24. Oktober 2020 

Wa(h)re Größe 

Entscheidend für den Erfolg ist allerdings das gesellschaftliche Selbstverständnis der mehr als eine Milliarde Chinesen, das sich in den vergangen zweieinhalbtausend Jahren herausgebildet hat. Traditionelle, ehemals konfuzianisch geprägte Ordnungsvorstellungen haben ihre Wirkungsmacht bis heute nicht verloren. Dazu gehört die hohe Akzeptanz eines zutiefst paternalistisch organisierten Gemeinwesens, das es – Konfuzius’ Lehren hin oder her – gerade im Kommunismus zu neuer Blüte brachte. Der alte, straff durchorganisierte Beamtenstaat des Kaiserreiches, dessen Tentakel sich in die hintersten Winkel der Gesellschaft erstreckten und das Leben eines jedes Einzelnen mitbestimmten, ist trotz des Untergangs der Dynastien nie verschwunden. Im Gegenteil – er ist auf unheimliche Weise noch erstarkt. Auch die Kommunisten organisierten die Gesellschaft hierarchisch höchst kleinteilig in sogenannten Einheiten. Heute sind dies Nachbarschaftskomitees. Sie verstetigten damit das Blockwart-System, das es schon immer gab, um das Verhalten der Einwohner zu kontrollieren und dadurch das riesige Reich vor dem Zerfall zu schützen. Gegen umfassende soziale Kontrolle hat das Gros der Chinesen, weil sie es kaum anders kennen, nichts einzuwenden: Wer sich an alle gesellschaftlichen Regeln hält, kann sicher und friedlich leben. Seit zweitausend Jahren definiert die Mehrheit ihr Ich im Bezug zum Wir, nicht – wie im Westen – umgekehrt.

Wenn die Kanzlerin zu Beginn des neuerlichen Shutdowns an die Disziplin eines jeden Einzelnen appelliert, wohlwissend, dass sie damit kaum die Mehrheit der Bevölkerung erreicht, sind derlei Beschwörungen in China gar nicht nötig. Die soziale DNA sorgt schon per se für Wohlverhalten, der Rest ist dann Kontrolle.

Wie Regierungen mit dieser Art von Monopolen umgehen können, weiß derzeit noch niemand. Mit dem Werkzeugkasten der alten Wirtschaftswelt ist deren Expansionsdrang nicht zu bremsen, weil das Preisargument nicht funktioniert. Doch ist nicht nur die überragende Marktmacht der vier Internet-Konzerne Google, Amazon, Facebook und Apple höchst umstritten. Auch ihre gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten bereiten Sorge. Ob sie diese mit unlauteren Mitteln aufgebaut und seither verteidigt haben, muss natürlich erst bewiesen werden. Amerika könnte als Erstes an Google ein Exempel statuieren.

Eines allerdings sollte man nicht vergessen: Ein solches Monopol entsteht zunächst nicht auf der Basis unlauterer Geschäftspraktiken, sondern aufgrund seines innovativen Angebots. Die Google-Suchmaschine bietet Ergebnisse faszinierender Qualität. Keinem anderen Anbieter ist es bisher gelungen, einen besseren Suchalgorithmus zu programmieren. Wahrscheinlich wird kaum ein Leser des Hauptstadtbriefs Google nicht verwenden. Ganz zu Unrecht ist das Unternehmen also nicht da, wo es jetzt steht.

Samstag, 10. Oktober 2020 

Vorher gesagt 

Mit negativen Vorhersagen kann man nichts falsch machen. Womöglich werden sie deshalb besonders gerne ausgesprochen. Von Christian Drosten zum Beispiel, dem omnipräsenten Spitzen-Virologen: „Weltweit geht es tatsächlich jetzt erst richtig los“, sagte er Mitte August, um jedes bisschen Hoffnung auf Entspannung im Keim zu ersticken. Die Weltgesundheitsorganisation WHO rechnet im Herbst mit wieder mehr Todesfällen in Europa. Und der nimmer müde Karl Lauterbach warnte zuletzt, Präsenzunterricht könnte zum „Superspreadingevent“ werden. Wie es indes genau kommt, weiß keiner von den dreien.

Ehrliche Menschen halten sich mit Prognosen daher zurück, die die es nicht lassen können, bleiben bewusst vage. Was Drosten mit seiner Prognose genau meinte, sagte er nicht: Keine Zahl, kein Szenario, keine Länder, lieber gleich die ganze Welt. Klar, derzeit gehen die Zahlen hoch. Im Moment könnte man ihm Recht geben. Doch das „Jetzt“ hatte er vor zwei Monaten ausgesprochen. Richtig lag er also nicht. Und Lauterbachs „Könnte“ hilft auch nicht wirklich weiter.

Was also nützten uns solche Vorhersagen?

Gar nichts. Nicht umsonst haben sich Menschen über Prognosen seit jeher mokiert. Winston Churchill etwa meinte, ein Experte sei ein Mann, der hinterher genau sagen könne, warum seine Prognose nicht gestimmt habe. Bekannter noch ist ein Zitat Mark Twains: „Prognosen sind eine schwierige Sache. Vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“

Ehrlicher ist da schon ein gewisser Professor Dirk Brockmann von der HU in Berlin: Wie sich eine Epidemie in der Bevölkerung ausbreite, sei mathematisch leicht zu beschreiben. Doch auch Informationen breiteten sich aus, Menschen änderten daraufhin ihr Verhalten und das wiederum den Verlauf der Ausbreitung. Genau prognostizieren kann man eigentlich gar nichts.

Vielleicht wählen deshalb jene, die sich gleichwohl so gern zitieren lassen, zum Inhalt ihrer Vorhersagen stets ein Negativszenario. Das hat nämlich Vorteile: Bleibt das befürchtete Szenario aus, wird sich kaum jemand an ihre Warnungen erinnern. Tritt indes ein, was vorhergesagt wurde, bekommen sie Recht. Weniger also kann man nicht falsch machen. Ganz wie Bill Gates, der schon 2015 vor einer Pandemie gewarnt hat. Das allerdings derart vage, dass man mit dieser Warnung nicht viel anfangen konnte. Er hat weder gesagt, wann sie kommt, noch, was zu erwarten ist, geschweige denn, wie sich die Welt hätte vorbereiten können. Jetzt aber hat er Recht und gilt seither als Prognose-Guru. Corona hatte er natürlich nicht vorhergesehen. Hätte sich das Virus nicht zu einer Pandemie entwickelt, hätte sich wohl kaum jemand seines Ausspruchs je erinnert.

Samstag, 26. September 2020 

Ältere Herren 

Frohe Botschaften sind selten geworden in der katholischen Kirche. Es sind vielmehr die Nachrichten geballter Problem- und Konfliktlagen, die die Bischöfe in Deutschland nach ihrer Vollversammlung in Fulda weiter ver- und bearbeiten müssen. Der Mitgliederschwund ist mehr als bedrückend, ebenso das einbrechende Kirchensteueraufkommen oder die umstrittene Finanzierung der – inzwischen immerhin geklärten – Entschädigungsfrage für die Missbrauchsopfer aus laufendem Kirchensteueraufkommen. Hinzu kommen Störsignale aus Rom, die alles, was an Reformbemühungen hierzulande angestrengt wird, zunichte zu machen drohen: der beißende Argwohn gegenüber dem synodalen Weg etwa oder zuletzt die Absage an die Bemühungen einer ökumenischen Annäherung mit einer wechselseitigen Einladung zu Abendmahl oder Eucharistie.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing – zumindest verbal reformfreudig und aufbruchbereit, was schon viel ist –, hat sogar das bisher Undenkbare ausgesprochen: die Abspaltung von Rom. Natürlich nicht als Option. Im Gegenteil. Um die Wogen vor der Vollversammlung zu glätten, hat er versichert, dass es eine deutsche Nationalkirche nicht geben werde.

Moment mal: Warum eigentlich nicht?

Die deutsche katholische Kirche ist nicht arm. Sie zieht jährlich 6,6 Milliarden Euro an Kirchensteuern ein und sitzt auf einem milliardenschweren Immobilien-, Beteiligungs- und Aktienvermögen. Doch hat sie noch viel mehr auf der Habenseite: Kindergärten und Schulen, die überlaufen sind, weil vielen Eltern die christlichen Werte, die sie vermitteln, viel bedeuten, gut funktionierende Krankenhäuser und andere karitative Einrichtungen, aufrechte Seelsorger und hoch engagierte Gemeindemitglieder, darunter tausende von Frauen, die heute schon klug ihren Einfluss geltend machen und die man natürlich zu Diakoninnen weihen könnte.

Mehr noch: Die katholische Kirche in Deutschland verfügt – jenseits einer Handvoll ewig Gestriger in herausgehobener Stellung – noch immer über genügend kritische Vernunft, über Einsichtsfähigkeit in das Notwendige und über eine enorme Bereitschaft, sich auf die Gegenwart einzulassen. Soll die Institution hierzulande nicht implodieren oder einfach immer weiter verschwinden aus der Lebenswirklichkeit der Gläubigen, muss sie genau das alles in die Waagschale werfen. Die alten Herren an ihrer Spitze werden einiges an überkommenen Gewohnheiten und Überzeugungen riskieren müssen, um den Prozess der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Kirche hierzulande umzukehren. Das Risiko könnten sie sich durchaus leisten – notfalls auch ohne Rom.

Samstag, 12. Sepember 2020 

Gung ho

Elon Musk ist mit seinem Privatjet für ein paar Tage überraschend in Deutschland gelandet und in der brandenburgischen Grünheide aufgeschlagen. Dort im Niemandsland soll seine Gigafactory 4 für die Herstellung von jährlich 500 000 Autos in 11 Monaten entstehen, ein Milliardenprojekt, für das man hierzulande gemeinhin Jahre braucht. Und tatsächlich liegt der Bau im Zeitplan. Von Elon Musk lernen – diese Devise hat Anfang der Woche nun der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) ausgegeben.

Die Gründe für den rasanten Baufortschritt sind vielfältig: die hohe Motivation und das gleichgerichtete Interesse aller Beteiligten, die perfekte Planung einschließlich einer enormen Flexibilität für notwendige Plananpassungen, die Adaption immer neuen Wissens und die Parallelität verschiedener Bauabschnitte, die normalerweise hintereinander abgearbeitet werden.

Entscheidender Faktor aber ist Musks verblüffende Risikobereitschaft, die all das überhaupt erst möglich macht. Er baut (noch) ohne abschließende Genehmigung. Er riskiert nicht mehr und nicht weniger als einen rechtlich erzwungenen Rückbau und damit das Scheitern des gesamten Vorhabens – ein Milliarden-Risiko. Und er riskiert eine betriebswirtschaftliche Niederlage gegen die weltweit wohl stärkste Konkurrenz, die ein Automobilhersteller sich aussuchen kann. Er baut im Autoland Deutschland, überdies ein Land der Verbrennungsmotoren, in dem das Thema Elektromobilität bei den Kunden noch gar nicht angekommen ist. Ob man Risikobereitschaft lernen kann?

Musk ist kein Unternehmer, der versucht, in gegebenen Verhältnissen sein unternehmerisches Tun zu optimieren. Er ist Unternehmer, der Strukturen, Produkte und Marktregeln maßgeblich verändert – stets mit dem hohen Risiko des Totalausfalls. Er ist einer, der „neue Kombinationen durchsetzt“, wie der österreichische Wirtschaftswissenschafter Joseph A. Schumpeter einst schrieb, was heute gemeinhin als Innovation bezeichnet wird. Dieser Typus komme selten vor im Vergleich zu der Überzahl der statisch disponierten Wirtschaftssubjekte. „Aber umso mehr fällt er auf, umso mehr zieht er die Aufmerksamkeit auf sich.“

Risikobereitschaft kann man womöglich nicht lernen. Noch nicht einmal von Musk. Doch man kann sich mitreißen lassen. So ist es die enorme Risikobereitschaft des gebürtigen Südafrikaners, die – bis auf ein paar ewige Skeptiker und Umweltbesorgte – die Menschen weit über Brandenburg hinaus elektrisiert und sogar SPD-Politiker, wenn auch nicht zu Kapitalisten, so doch zu begeisterten Anhängern eines Vollblutkapitalisten macht.

Samstag, 29. August 2020 

Mit Moos

Wäre die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg nicht unlängst auf Kanzlerin Angela Merkel getroffen, hätten wir vor dem Hintergrund wieder steigender Covid-Infektionszahlen ganz vergessen, dass derzeit überall auf der Welt die Wälder brennen. Allen voran im Amazonas-Gebiet in nie da gewesenem Ausmaß. Jetzt soll deshalb das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten hinausgezögert werden. Eine Sanktionsmaßnahme.

Seit Beginn verstärkter Brandrodungen Anfang der 1990er-Jahre hat sich Brasilien kaum je um die weltweiten Aufschreie ob der Vernichtung des einzigartigen Ökosystems geschert. Im Gegenteil – die Eingriffe wurden immer vehementer. Das Problem dahinter ist ein Interessenkonflikt: Die Stabilität des Weltklimas zugunsten aller basiert auf der Unversehrtheit dieser gigantischen „grünen Lunge“. Dem aber stehen die individuellen Interessen der brasilianischen Bauern für die Sicherung und Mehrung ihres Lebensunterhalts entgegen. Interessenkonflikten ist nicht mit Appellen, Drohungen oder Sanktionen beizukommen, sondern nur mit Interessenausgleich.

Im Fall des Regenwaldes ist dieser allerdings nicht ganz einfach zu organisieren. Denn der Welt-Nutzen seines Klimabeitrags hat keinen konkreten Preis. Mehr noch: Gutes Klima ist ein öffentliches Gut, dessen sich jeder erst dann bewusst wird, wenn es sich verschlechtert. Wer den Regenwald retten will, kann heute schon über Umweltinitiativen – für vergleichsweise wenig Geld – einen Hektar Wald erstehen. Als Tropfen auf den heißen Stein sind diese Aktionen oft belächelt worden, obschon ihnen ein ökonomisch logischer Gedanke innewohnt: Der Klima-Beitrag des Regenwaldes braucht einen Preis. Das könnten die entgangenen Gewinne aus nicht realisierten landwirtschaftlichen Vorhaben oder dem verhinderten Abbau von Bodenschätzen sein. Nur wäre es nicht fair, diese Kosten in Form entgangener Gewinne allein dem Land aufzubürden, in dem der Wald zufällig wächst. Auf den Punkt gebracht hat das unlängst der Ökonom Hans-Werner Sinn mit der provokanten Forderung, die Weltgemeinschaft müsse den betroffenen Ländern den Regenwald als Ganzes abkaufen und dann seinen Schutz organisieren.

Der Gedanke ist nicht neu. Schon in den 1990er-Jahren wurde über eine Zahlungsbereitschaft der Weltgemeinschaft für den Schutz des Regenwaldes debattiert. Verfolgt wurden die vielen klugen Ideen leider nie. Man dachte, man könnte es billiger haben. Daran aber wird sich etwas ändern müssen. Sonst werden die Amazonaswälder nicht zu retten sein. Für seinen Produktionsanteil an gutem Klima wird die Welt Brasilien entschädigen müssen. Ein Modell dazu sollte sie sich lieber früher als später überlegen.

Samstag, 15. August 2020 

Illusionen

Die Aktienmärkte haussieren. Die Krisenstimmung ist verschwunden, die Welt der Finanzmärkte nach den scharfen Einbrüchen im Frühjahr wieder in Ordnung. Und das – bemerkenswerterweise – auch noch in einer Zeit, in der die Pandemie alles andere als unter Kontrolle und die Erholung der Volkswirtschaften noch überhaupt nicht sicher ist.

Gleichwohl lässt sich die Entwicklung an den Aktienmärkten begründen: etwa mit wachsenden Unternehmensgewinnen bis zum Beginn der Krise oder mit dem historischen Faktum, dass Bullenmärkte – von Zäsuren abgesehen – im Durchschnitt nun mal über 25 Jahre laufen. Wichtigster Treiber aber ist das Geld, unendlich viel Geld, das die Notenbanken und Regierungen derzeit in die von Lockdowns gestressten Volkswirtschaften und damit in die Märkte pumpen.

Zumindest an den Aktienmärkten scheint diese Strategie der Krisenbewältigung zu funktionieren. Vermögen, die durch die Kurseinbrüche im Frühjahr vernichtet wurden, sind inzwischen wieder entstanden. Nur, was sich auf den ersten Blick nach 2008 erneut als veritabler Erfolg von Regierungshandeln und Zentralbankinterventionen deuten ließe, erweist sich auf den zweiten als problematisch: Die Liquiditätsschwemme geht schließlich mit der Abschaffung der zentralen volkswirtschaftlichen Referenzgröße einher, des Zinses. Wenn es für Geld keinen Zins mehr gibt, hat das Verteilungswirkungen, die gerade in den Momenten einer Hausse von Aktien und Immobilien augenfällig werden: Die Vermögenden werden reicher, während Millionen in Kurzarbeit noch nicht einmal mehr sparen können.

Von einer Welt ohne Zinsen haben schon viele geträumt: darunter Philosophen, Religionsführer, sogar Ökonomen wie Karl Marx. Dabei haben sie stets als ungerecht empfunden, dass sich mit dem Verleihen von Geld anstrengungslos noch mehr Geld machen lässt.

Seit zehn Jahren haben die Notenbanken in den beiden großen Blöcken der kapitalistischen Welt den Zins faktisch abgeschafft – und ausgerechnet mit „Freigeld“ eine Welt kreiert, die ungerechter nicht sein könnte. Nicht nur, dass wenige vermögende Sparer keine Chance haben, ihr kleines Geld sicher zu mehren. Vielmehr nährt die Liquidität die Hausse in Vermögensklassen wie Aktien oder Immobilien, in die der wenig vermögende Normalbürger erst gar nicht investiert. Dass sich dessen Bilanz im Verschuldungsfalle in Nullzinsphasen bessert, tut dabei kaum etwas zur Sache. Billiges Geld wird schließlich nur bei optimalen Sicherheiten ausgegeben. Das heißt: Eine steigende Vermögensungleichheit verhindert die Abwesenheit von Zinsen gerade nicht, im Gegenteil. Nach zehn Jahren Nullzinspolitik hat sich die schöne Gerechtigkeits-Utopie der Zinskritiker als Illusion entpuppt.

Samstag, 1. August 2020

Unbill

Die Fallzahlen steigen wieder. Das Robert Koch-Institut (RKI) warnt bereits vor einer zweiten Corona-Welle, und vielen Deutschen dämmert inzwischen, was sie lange nicht wahrhaben wollten: dass wir alle womöglich über Jahre unter Pandemie-Bedingungen leben müssen, sofern kein Impfstoff gefunden wird. Die Bundesregierung hat sich derweil auf eine Politik staatlicher Fürsorge verlegt, die mitunter bizarre Blüten treibt. Aus Angst davor, dass zurückkehrende Urlauber wissentlich oder unwissentlich infiziert nach Hause kommen, soll von Montag an eine allgemeine Rückkehrer-Testpflicht gelten, sofern ein auf der Risikoliste des RKI befindliches Land bereist wurde. Das allein wäre noch keinen zweiten Blick wert, hätte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht auch verfügt, dass fortan die Allgemeinheit die Kosten dafür trägt.

Warum eigentlich? Nur, weil der Test für Rückkehrer zur Pflicht wird? Oder um sich nicht den Unbill der Bürger zuzuziehen, die längst gewohnt sind, dass Folgekosten staatlicher Schutzanordnungen gemeinhin auch der Staat zu schultern habe?

Deutschland ist verfassungsrechtlich ein Sozial- und Fürsorgestaat, dessen gesellschaftliche Gruppen immer wieder aushandeln müssen, wo genau die Grenzen zwischen Kollektiv- und Individualverantwortung verlaufen. Privates Risikokalkül bleibt davon niemals unberührt.

Wer in Zeiten einer Pandemie auf eine Auslandsreise nicht verzichten will und sich an vollen Stränden, Strandpromenaden oder gar Bars vergnügt, geht – sehr bewusst – ein Risiko ein. Risiko ist nicht nur ein Adrenalin treibender Spaßverstärker, sondern ein veritabler Kostenfaktor, der gemeinhin in Form einer Prämie in jedem unternehmerischen und privaten Kalkül seinen Niederschlag findet. Es gibt keinen Grund, dass diese Minimalprämie in Form der Kosten eines verpflichtenden Covid-19-Tests im Fall von Auslandsreisen vom Staat übernommen wird. Man könnte schließlich auch in Deutschland Urlaub machen. Dass ausgerechnet Urlauber den mittleren zweistelligen Betrag nicht finanzieren können, ist auszuschließen. Den Urlaub haben sie sich schließlich auch geleistet.

Wer in Deutschland lebt, hat ein Grundrecht darauf, dass ihn der Staat vor Infektionsrisiken durch jene schützt, die bereit sind, sich solchen im Ausland auszusetzen. Der Staat kann das allein dadurch tun, dass er Urlauber dazu zwingt, das erhöhte Reiserisiko in ihr privates Kostenkalkül einzureisen. Urlauber würden merken, dass in Pandemie-Zeiten Fernweh teuer werden kann, und sich ihr Abenteuer vielleicht zweimal überlegen.

Samstag, 18. Juli 2020 

Mehr Kompetenz

An der Quote könnte sich die Kanzlerfrage entscheiden. Auf dem CDU-Parteitag im November soll zwar zunächst über den Vorsitzenden und damit möglichen Kanzlerkandidaten entschieden und dann erst eine Debatte über die von der Parteispitze beschlossene Frauenquote geführt werden. Doch schon jetzt positionieren sich die Aspiranten auf den Spitzenjob: Röttgen will die Quote, Merz lehnt sie ab, Laschet schweigt. Die Quotenfrage ist damit – leider – zu einer strategischen Option geworden, möglichst viele Parteimitglieder hinter sich zu versammeln. Eine Herzensangelegenheit ist sie nicht.

Bemerkenswert ist, dass vehemente Quotengegner in der Union nicht nur auf Seiten der Männer, sondern auch der Frauen zu finden sind. Warum nur, würde gerade ihnen doch ein Beteiligungsquorum von 50 Prozent an den Gremien von der Kreisliga aufwärts zugutekommen? Dabei beruht die Ablehnung der Quote auf einem gängigen Missverständnis, das sich jüngst in der Überschrift eines Debattenbeitrags manifestierte: „Quote oder Kompetenz?“ stand da in tiefschwarzen Lettern. Kompetenz aber ist genau nicht die Alternative zur Quote. Denn Quote bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass bei gleicher Kompetenz Frauen so lange bevorzugt werden, bis sie zahlenmäßig mit den Männern gleichgezogen haben. Sie zwingt damit dazu, nach genau jenen Frauen zu suchen, die ungeachtet ihrer Kompetenz womöglich nicht von allein nach vorne drängen.

Kompetenz ist keine Frage des Geschlechts mehr. Frauen sind vielfach besser ausgebildet als Männer, und sie können – auch das haben Studien bewiesen – besser verhandeln, wenn auch nicht für sich, so doch in der Sache. Vielfalt hebt die Qualität in Entscheidungsgremien allein schon deshalb, weil nicht von vornherein auf Kompetenzen einer gesellschaftlichen Gruppe verzichtet wird, die bislang ausgeschlossen war. Im Gegenteil – sie sorgt logischerweise für deutlich mehr. „Mehr Kompetenz durch Quote“ hätte besagter Beitrag überschrieben sein müssen. Gerne auch mit einem Fragezeichen, wenn man darüber streiten möchte.

Völlig außer Acht bleibt in der Debatte übrigens, dass es derzeit fast überall eine Männerquote gibt, weil Erfolg noch immer an das Geschlecht gekoppelt ist. Männer, darunter entsprechend Gaußscher Normalverteilung auch reichlich Mittelmaß, kommen vor allem deshalb weiter als Frauen, weil sie Männer sind. Gleichberechtigung wäre tatsächlich erst dann erreicht, wenn Frauen die gleichen Chancen auf Schlüsselpositionen haben wie männliches Mittelmaß.

Samstag, 4. Juli 2020 

Vertrauen 

Für Deutschland ist der Kollaps von Wirecard ein Desaster: geschädigte Anleger, ein enormer Reputationsverlust des Kapitalmarkts, dazu der vermeintliche Beweis, dass deutsche Tech-Unternehmen das ganze große Rad wohl doch nicht drehen können. Dann die Schande für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die Finanzaufsichtsbehörde Bafin, die privatrechtlich organisierte „Bilanzpolizei“ DPR, für EZB und Bundesbank. Sie alle wollten die Betrugsmanöver von Wirecard nicht wahrhaben.

Wie bei Skandalen solchen Umfangs üblich, wird sofort die Systemfrage gestellt. Derzeit steht die Qualität des Prüf- und Aufsichtsgeflechts in Frage. Ist es Marktteilnehmern gewachsen, die jenseits der Grenzen von Ländern und Geschäftsfeldern operieren?

Auf den zweiten Blick lautet die Antwort: Ja – aller Kritik zum Trotz. Bei Wirecard hat nicht das System versagt, sondern die Menschen begingen folgenschwere Fehler – die Wirtschaftsprüfer mit einem Testat trotz eklatanter Ungereimtheiten, die Aufsichtsbehörden, die sich davon blenden ließen und trotz vieler Hinweise nicht reagierten. Eine solche Zusammenballung kommt sehr selten vor.

Man könnte somit eine andere Deutung dieses Bilanzskandals versuchen: Ist Wirecard nicht genau jene extravagante Ausnahme, die die Regel eines erstaunlich gut funktionierenden Kontrollsystems für Rechnungslegung bestätigt? Schließlich ist die Vorstellung, dass sich alles bis ins Letzte prüfen lässt, kaum mehr als eine Illusion. Selbst gestrenge Prüfer müssen darauf vertrauen, dass sie gerade nicht aufs Raffinierteste betrogen werden. Und das ist richtig so.

Als „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“ hat der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann den Begriff des Vertrauens einst definiert. Setze man statt auf Vertrauen nur auf Kontrolle, müssten enorm hohe Transaktionskosten geschultert werden. Vertrauen ist mit Risiko verbunden. In der Regel aber sind die Risikoprämien enttäuschten Vertrauens viel geringer als die Transaktionskosten absoluter Kontrolle.

Die gesamte Wirtschaft einschließlich des Kapitalmarkts lebt von Vertrauen, nicht von Testaten. Müsste sie von der Kontrolle leben, käme sie bald zum Stillstand. Die ganz überwiegende Zahl der Wirtschaftssubjekte hat nicht die Absicht zu betrügen. Genau auf die ist auch das sehr gut funktionierende System der Bilanzprüfung ausgerichtet. Nicht Kontrolle und Misstrauen befördern Prosperität, sondern Vertrauen. Das gilt auch dann, wenn es in seltenen Einzelfällen teuer wird.

Samstag, 20. Juni 2020 

Instinkte 

In Krisen schlägt die Stunde des Staates. Das nimmt sich aktuell so aus: Der Staat verschuldet sich mit 218,5 Milliarden Euro, um das Geld nach Gutdünken an jene zu verteilen, die seiner Meinung nach bedürftig sind. Und er kauft sich mit 300 Millionen Euro Steuergeld – auch nach Gutdünken – in eines der Unternehmen ein, das an der Entwicklung eines Corona-Impfstoffs arbeitet. Warum darf man sich über so viel Anmaßung nicht aufregen? Weil in der Krise nun mal ein starker Staat gefragt ist. Die Erfahrung des Kontrollverlusts schürt die Sehnsucht nach Schutz, der – so der gesellschaftliche Konsens – nur von ganz oben kommen kann. Diejenigen, die die derzeitige Anmaßung im Staatshandeln in Frage stellen, haben einen schweren Stand.

Grund dafür ist allerdings nicht nur die aktuelle Krise. Die nahezu bedingungslose Staatsgläubigkeit bis weit in das Milieu gesellschaftlicher Eliten hinein entspricht altbewährter kontinentaleuropäischer Tradition. Spätestens seit Otto von Bismarck sind die Deutschen preußisch-etatistisch. Bereits ein paar Jahrzehnte zuvor stach das dem französischen Denker und Politiker Alexis von Tocqueville ins Auge: Allzu stark kümmere sich die Zentralgewalt um die Einzelheiten des staatlichen Lebens. „Allenthalben dringt sie weiter als früher in das Privatleben vor.“ Noch nicht einmal die Wirtschaftselite ist je besonders liberal gewesen. In Bedrohungslagen hat sie stets nach dem Staat gerufen. In den 1990er-Jahren sah es für ein paar Jahre mal etwas anders aus, als sich bis in die mittleren Schichten hinein eine gesunde Staatsskepsis verbreitete. Doch blieben solche Phasen die Ausnahme der Regel. Spätestens seit den Nullerjahren soll der Staat dem gesellschaftlichen Postulat entsprechend wieder Gerechtigkeits- und Industrie-, ja, sogar Moralpolitik betreiben.

Staatsgläubigkeit muss nicht per se schlecht sein. Sie ist aber vor allem eines: bequem. Und kann auch teuer werden. Woher weiß die Regierung, dass ausgerechnet *Curevac* das Rennen um den Impfstoff macht? Und was, wenn nicht und das millionenschwere Investment so an Wert verliert?

Skepsis verbietet sich. Auch dieses Reaktionsmuster hat Tocqueville schon vor 200 Jahren beschrieben: Wenn die Zentralgewalt den Instinkten der Bevölkerung entsprechend handele, dann kenne selbst in Demokratien das Vertrauen in den Staat keine Grenzen mehr: „Niemand ist weniger unabhängig als ein freier Bürger.“

Samstag, 6. Juni 2020 

Ausnahmen 

Weiß ist die Macht. Und männlich. Immer noch – und man fragt sich, warum. Leuchtende Beispiele, dass es auch anders sein kann, gibt es längst. Barack Obama und Angela Merkel wurden als Regierungschefs weltweit prominent. Und trotzdem hat sich das – verfassungswidrige – Übel der Diskriminierung sogar in modernen Gesellschaften beharrlich gehalten. In Amerika hat die post-rassistische Ära mit Obama genauso wenig begonnen, wie sich die Chancen für Frauen in Führungspositionen hierzulande mit Merkel verbessert haben. Obama selbst hat auf den Rassismus in seinem Land keine politischen Antworten gefunden und Merkel nicht auf das Problem der Benachteiligung aufgrund traditioneller Rollenbilder. Man könnte fast sagen: Sie haben danach auch gar nicht erst gesucht, sondern das Thema wohlweislich vermieden. Afroamerikaner sind noch immer Bürger zweiter Klasse. Black lives still don’t matter. Und die Bundeskanzlerin hat sich nie wirklich für die Belange der Frauen stark gemacht – nicht zuletzt, um konservative männliche Wähler nicht zu verprellen.

Doch ist das nur die halbe Wahrheit. Es war stets eine Illusion, dass Mitglieder jener gesellschaftlichen Gruppen, denen nach Mehrheitskonsens Spitzenpositionen eigentlich gar nicht zustehen, als Vorbilder taugen, wenn sie es gegen alle Widerstände ganz nach oben schaffen. Merkel und Obama wissen genau, dass sie als Frau oder Schwarzer in ihrer beider Stellung ausschließlich über ihren Status als Ausnahme funktionieren, die die Regel bestätigt. Gerade deshalb entfalten sie auf die Lebenswirklichkeit der Menschen keine Wirkung. Ausnahmen verändern weder das Bewusstsein derer, die unter Benachteiligung leiden, noch derer, die Diskriminierung tagtäglich bewusst oder unbewusst praktizieren.

Die Diskriminierung ist strukturell. Gleichberechtigung wird ohne massive politische Interventionen weiterhin überall nur gepredigt, nicht gelebt. Verheerend daran: Die Einsicht der Benachteiligten in ihre begrenzten Möglichkeiten prägt ihren Umgang mit denselben, was wiederum die Diskriminierung befördert.

„Black Lives Matter“ – unter dem Slogan demonstrieren derzeit weltweit Millionen. Der Tod von George Floyd zeigt, wie wichtig die Bewegung ist. An die Namen derer, die sie 2013 ins Leben riefen, erinnert sich heute kaum noch jemand: Alicia Garza, Patrisse Cullors und Opal Tometi – drei schwarze Frauen.

 

Meine Frage der Woche

 

Hier findet sich eine kleine Auswahl an Fragen, die sich mir über die Jahre allwöchentlich gestellt haben. Manche lassen sich leicht beantworten, andere wiederum lassen einen nicht los. Und wieder andere erledigt die Geschichte. "Meine Frage der Woche" muss nun meiner Kolumne im Hauptstadbrief weichen. Denn auch dort geht es um Fragen und die Suche nach Antworten. 

 

November 2019

FSK seht für "Freiwillige Selbstkontrolle". Sie ist ein 1949 gegründetes Gremium der Filmwirtschaft, die  die Altersbegrenzung für Filme und andere Trägermedien festlegt. Jeder Film, der auf deutschen Leinwänden erscheint, hat eine FSK-Angabe. So auch der gerade in Deutschland angelaufen  amerikanische Film "The Report", ein  Doku-Drama über den Senatsmitarbeiter Daniel Jones, der den Bericht über die "erweiterten Verhörmethoden" der CIA schrieb und für seine Veröffentlichung kämpfte. Die FSK hat den Film  für ein Alter ab 12 (sic!) Jahren freigegeben. In dem Film sind - mehrfach - extrem verstörende Foltermethoden bis hin zur Folter mit Todesfolge zu sehen, die ich im Alter von 55 Jahren kaum ertragen konnte. Meine Frage: Wer sind die Mitarbeiter der FSK, die ihren Kindern im Alter von 12 oder 13 Jahren solche Folterszenen zumuten würden? 

 

 

September 2019

Ich lese selten Reportagen, ich kannte - vor dem Fälschungsskandal beim Spiegel weder den Hochstapler und Betrüger Claas Relotius noch dessen Widersacher Juan Moreno, der den vermeintlichen Spiegel-Starreporter entlarvt und einschließlich zweier Ressortleiter zur Strecke brachte. Darüber er jetzt ein Buch geschrieben und zieht nun seinerseits als Star durch die Lande. Das sei ihm sehr gegönnt, er hat ja viel riskiert. Nur: Auch er überhöht die Reportage als vermeintliche Königsdisziplin des Journalismus und damit sein eigenes Terrain (es gibt wahrlich noch andere, wichtigere journalistische Formate). Und er überhöht das Nachrichtenmagazin Spiegel, seinen Arbeitgeber. Genau diese Attitüde hat dazu geführt, dass die Fälscherei im Spiegel überhaupt eine Chance hatte. Um den Leser, der viele Ausgaben lang schlichtweg betrogen wurde ging es Relotius und geht es auch Moreno nicht. Er kommt mit keinem Wort vor. Muss das bei Reportern zwangsläufig so sein?

 

 

September 2019

 

AfD-Demagoge Björn Höcke  hat es in einem Interview mit dem ZDF zum Eklat gebracht. Er habe sich allzu sehr emotionalisiert gefühlt und wollte deshalb noch einmal von vorn beginnen. Es ging um die Ähnlichkeit seines Vokabulars zu hitler'scher Diktion.  Darauf haben sich die Kollegen des Senders nicht eingelassen. Das ganze wurde abgebrochen - und natürlich ins Netz gestellt. Der ZDF-Kollege wird als aufrechter Journalist gefeiert. Doch die Wirkung des ganzen Unterfangens ist trotzdem fatal: Höcke ist nicht als Nazi entlarvt, er hat vielmehr eine weitere Gelegenheit bekommen, sich als Opfer des Establishments zu stilisieren, was ihm noch Wähler in die Arme treibt. Das ist ein altbewährtes Muster. So jemanden wie Höcke sollte man erst gar nicht interviewen. Warum verstehen die Journalisten das nicht endlich? 

 

September 2019 

In zwei ostdeutschen Bundesländern hat mindestens jeder Vierte die AfD gewählt - und damit einen gährigen Haufen nationalromantischer bis rassistischer Politiker. Europa steht am Scheideweg und wird derzeit nur von Frankreichs Präsident mit - zugegebener Maßren sehr französischer Attitüde - vorangetrieben. In der CDU sind heftige Flügelkämpfe ausgebrochen. Die deutsche Volkswirtschaft steuert derzeit in einen Abschwung. Und was tut die Kanzlerin: Sie schweigt, schweigt, schweigt und schweigt. Staatspolitisch ist das unverantwortlich. Ist es da nicht naheliegend zu vermuten, dass sie nichts mehr zu sagen hat und längst abgetreten sein sollte? 

 

April 2019

Nun ist der Brexit ein weiteres mal verschoben. Und vor allem in Europa schüttelt man den Kopf darüber. Der eine ist verärgert, dem anderen reißt der Geduldsfaden, die Kommentare  der Medien sind voll von Überheblichkeit, Spott und Häme. Nur, weil sich in Großbritannien die Außen- mit der Innenpolitik auf höchst gerade auf höchst unglückliche Weise verknüpft und dadurch zur Handlungsunfähigkeit von Regierung und Parlament führt. Oder weil die Premierministerin vielleicht zu starr auf ihren Plänen beharrt. In solch eine verfahrene Lage kann heutzutage jedes Land geraten. Wer also hat das Recht, Großbritannien derart zu belächeln?  

 

März 2019 

Offiziell haben die Fusionsgespräche zwischen Deutscher Bank und Commerzbank  begonnen und es kann gut sein, dass am Ende nur noch ein deutsches Institut übrig bleibt. Als ich 1995 in die  Finanzredaktion der Frankfurter Allgemeinen  wechselte und für die Berichterstattung über die Großbanken zuständig war, gab es derer noch fünf: die Bayerische Vereinsbank, die Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank, die Commerzbank, die Dresdner Bank und die Deutsche Bank. Nun sind sie fast alle verschwunden. Sang- und klanglos. Die einst  so stolze  Deutsche Bank ist im internationalen Vergleich ein Zwerg geworden. Können die Deutschen Banking nicht? 

 

 

 

Januar 2019


Zwischen Nachricht und Meinung wird im Journalismus immer weniger unterschieden. Das findet überall statt. Artikel - so das moderne Postulat - müssten mit einer bestimmten Haltung verfasst werden. Haltung - das klingt vornehmer, intellektueller als Meinung - bedeutet aber dasselbe. Durch den Text muss die Meinung des Autors zu einem Sachverhalt erkennbar werden. Wie funktioniert das handwerklich? Es wird eine These aufgestellt, der die Recherche unterworfen wird. Das bedeutet dann: Sagen, was ist. Reportagen sind dafür anfällig. Sie haben eine These. Weil Protagonisten nie hundertprozentig zur These passen, werden sie passend gemacht, in Extremfällen aus mehreren Personen zusammengebaut oder gleich ganz erfunden. Zur Not ist die Reportage dann „literarisch“ und preisgekrönt, hat aber mit Journalismus nichts zu tun. Mit einer Absage an den Thesen-Journalismus wäre schon viel gewonnen. Nicht „sagen, was ist“ - fragen, was ist. Wäre das nicht ehrlicher? 

Dezember 2018

Friedrich Merz ist verschwunden. Einfach abgetaucht, so unvermittelt, wie er kam, hat er sich wieder verdrückt. Dabei hatten wir doch alle ein bisschen darauf gesetzt, dass es mit ihm zumindest wieder unterhaltsamer würde in der Politik. Nichts dergleichen.  Sollte es das also schon gewesen sein? Kaum etwas spricht dagegen,  viel  dafür und verleitet zu der These, dass es Friedrich Merz nie ernsthaft daran gelegen war, ins Konrad Adenauer-Haus einzuziehen.  Die schlechte Vorbereitung, seine unpassenden Berater ohne politische Erfahrung, die verhaltene Rede, sein früher Abgang vom Parteitag zwei Stunden vor Schluss - agiert so einer, der unbedingt an die Parteispitze und dann ins Kanzleramt will?

 

September 2018

Zum Wochenende durfte man sich allerlei Beschimpfungen anhören. Außenminister Heiko Maas hat kräftig ausgeholt und uns allen Bequemlichkeit vorgeworfen, ein Dahinsiechen im Wachkoma oder die totale Gleichgültigkeit. Wir sollten mal vom Sofa hochkommen.  Er weiß offenbar sehr genau, dass uns die Vorfälle in Chemnitz und die unerträgliche Salonfähigkeit rechten Gedankenguts  kalt lassen.  Das tun sie nicht, Herr Maas! Und es gibt keinen Grund, das Gros der Bevölkerung dafür zu beschimpfen. 

Vielmehr wäre es sehr viel klüger, Maas  würde sich endlich mal damit beschäftigen, was die Berliner Politik zum unerträglichen Erstarken der Rechten  beigetragen hat. Beschimpft er mit seiner Tirade vom Sonntag also nicht eindeutig die Falschen? 

 

Juni 2018

Joachim Löw  darf  offenbar selbst entscheiden, ob er Bundestrainer bleibt oder nicht und nimmt sich Zeit. Derweil wagt es kaum einer deutlich auszusprechen: Joachim Löw sollte  jetzt gehen - nicht weil er ein schlechter Trainer wäre, sondern weil ein  Neuanfang  nun mal nur über neue Leute funktioniert. Auch in der Wirtschaft ist das so. Die Deutsche Bank etwa hat ihren  Neuanfang vor ein paar Jahren mit altem Personal organisiert. Und ist gescheitert. Erholt hat sie sich davon bis heute nicht.  Löw muss gehen uns sein Teammanager auch. Schon Löws  Ankündigung, dass er erstmal analysieren will, wie viel von dem Debakel auf seine Kappe geht, zeigt, dass er für die Zukunft der Falsche ist. Oder will der DFB wirklich den Fehler der Deutsche Bank wiederholen? 

 

 

. Januar 2018

Die auf 20 Prozent geschrumpfte SPD ist zerrissen wie nie. Jetzt zieht sie mit dem uncharismatischsten Parteichef seit Rudolph Scharping und auf Basis einer knappen Mehrheitsentscheidung in die Koalitionsverhandlungen. So viel kann sie aus diesen Verhandlungen gar nicht mehr herausholen, als dass sich auch die Skeptiker, geschweige denn auf Dauer die Wähler überzeugen ließen. Ein Trauerspiel zum Fremdschäden. Langsam frage ich mich: Wären Neuwahlen mit neuem Spitzenpersonal bei den beiden großen Parteien nicht doch die sauberere Lösung?

9. Januar 2018

"Fire and Fury" heißt das neue Buch über Donald Trump und das Treiben im Weißen Haus. "Feuer und Wut" - schon der Titel verspricht, was Michael Wolff, der Autor des Opus artig liefert: Süffigste Kolportage aus dem derzeit berühmtesten Irrenhaus der Welt. Was an den Schilderungen wahr ist und was nicht, spielt überhaupt keine Rolle, weil alles wahr sein könnte. Wir alle wussten, dass es in Washington derzeit wie im Tollhaus zugeht und ahnten bereits, dass Donald Trump auf dem Weg in die Demenz ist. Auch das haben vor Wolff schon Psychiater per Ferndiagnose vermutet. Zwei Fragen bleib nach der Lektüre: Was ist das für ein Land, das sich so einen Präsidenten leistet? Und: Warum handelt eigentlich niemand? 

 

 

 

8. November 2017

 

Der Schauspieler Kevin Spacey ist vernichtet. Diesen großartigen Leinwandkünstler und maliziösen Verführer wird es auf dem Schirm wohl nicht mehr geben.  Binnen einer Woche haben sich in Hollywood und wohl auch im Rest der Welt alle, die im Show-Business etwas zu sagen haben,  binnen einer Woche von ihm abgewandt. Wenn all das wahr ist, was ihm vorgeworfen wird, ist er an seiner Vernichtung selbst Schuld. 

Trotzdem bleiben Fragen: Haben nicht unzählige Produzenten und Schauspieler und Netflix jahrelang von seiner Genialität profitiert und wohl wissend in Kauf genommen, dass er offensichtlich fortdauernd Grenzen überschreitet. Wenn seit Jahren angeblich jeder um Promiskuität und Machtmissbrauch des Kevin Spacey wusste, warum hat dann nie jemand versucht, ihn vor sich selbst zu schützen? 

November 2017

 

1. November    2017

FDP-Chef Christian Lindner scheut Unkenrufe nicht. Jamaika könne auch scheitern, sagt er.  „Ich habe die FDP nicht zurück ins Parlament geführt, um in einer Regierung ohne eigene Akzente zu arbeiten." Oder: "Ich habe keine Angst vor Neuwahlen." Auch glaubt er nicht, dass die AfD von Neuwahlen profitiert. Woher er das weiß? 

Ich, ich, ich -  es wäre besser, der liebe Herr Lindner würde mal ein bisschen Testosteron ablassen, sich weniger auf sich konzentrieren und über Kompromisse nachdenken, die eben doch machbar sind. Manchmal fragt man sich, ob der Egozentriker Demokratie überhaupt verstanden hat. 

1. Oktober 2017

"Babylon Berlin" ist eine Serie, wie man sie im deutschen Fernsehen noch nicht gesehen hat. So bejubelt das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die ARD-Produktion, an deren Kosten sich auch der Bezahlsender Sky beteiligt hat. Nur: Man wird diese Serie auch erst einmal nicht im deutschen Fernsehen sehen. Sie läuft ab Oktober auf Sky - obwohl sie mit Gebühren deutscher Fernsehzuschauer in zweistelliger Millionenhöhe finanziert ist. Doch die Gebührenzahler müssen ein Jahr warten. Es sei denn, sie abonnieren Sky, um angeheizt von dem medialen Hype um die Serie gleich mit von der Partie zu sein. Dass sie dann für den Film doppelt zahlen, interessiert in der ARD niemanden. Arroganz der Macht. Das ist ist skandalös. N.b. Die Rundfunkgebühr ist eine ZWANGSABGABE! Warum regt sich darüber niemand so richtig auf?

 

26. September 2017

Das Lamento über die große Koalition war nie zu überhören. Sie schade der SPD als Volkspartei, weil sie sich in ihr nicht profilieren könne. Sie laste wie Mehltau auf  der Demokratie, weil im Parlament keine große Oppositionspartie  mehr der Regierung und Angela Merkel Paroli biete. Sie böte zu viel Spielraum an den Rändern des Parteienspektrums. Jetzt zieht die SPD die einzig richtige Konsequenz aus ihrer Wahlniederlage und verabschiedet sich in die Opposition. Und was tun Politiker und Hauptstadtjournalisten? Sie werfen ihre Verantwortungslosigkeit vor. Warum eigentlich? 

5. September 2017

 

Martin Schulz sind die Golffahrer näher als die Golfspieler.  Mit diesem einfältigen Wortspiel entzündet er ein keines mediales Strohfeuer. Jens Spahn hält Großstadt-Hipster für gefährliche Separatisten - weil sie nur Englisch sprechen und sich abschotten. Auch ihm gelingt ein mediales Strohfeuer. Beides hat wenig mit dem Lebensalltag umworbener Wähler zu tun. Die wenigsten spielen Golf oder würden sich zu den Hipstern zählen. Was also sollen diese Beiträge? Nehmen Schulz und Spahn die Wähler nicht ernst oder haben sie zu wirklich relevanten Themen nichts zu sagen? 

August 2017

Martin Schulz sind die Golffahrer näher als die Golfspieler.  Mit diesem einfältigen Wortspiel entzündet er ein keines mediales Strohfeuer. Jens Spahn hält Großstadt-Hipster für gefährliche Separatisten - weil sie nur Englisch sprechen und sich abschotten. Auch ihm gelingt ein mediales Strohfeuer. Beides hat wenig mit dem Lebensalltag umworbener Wähler zu tun. Die wenigsten spielen Golf oder würden sich zu den Hipstern zählen. Was also sollen diese Beiträge? Nehmen Schulz und Spahn die Wähler nicht ernst oder haben sie zu wirklich relevanten Themen nichts zu sagen? 

Februar 2017

 

 

 

Der Omnipräsenz des Martin Schulz ist nicht zu entkommen. Nur weiß man nicht genau, was jetzt eigentlich gilt: Angeblich hat er auf der Beliebtheitsskala der Politiker Angela Merkel hinter sich gelassen. Angeblich wird die Union langsam nervös. Andere Umfragen allerdings kommen zu ganz anderen Ergebnissen: Schulz habe ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die Mehrheit der Bevölkerung sehe ihn nicht als künftigen Kanzler, sondern weiterhin Angela Merkel als Regierungschefin.  Wahrheit je nach Umfrage - wer würde nicht wissen wollen, wie es wirklich ist? 

 

Oktober 2016

 

Der historisch hässliche Wahlkampf  in den Vereinigten Staaten  scheint vielen Menschen den 

Abschied von Barack und Michelle Obama besonders zu erschweren. Millionenfach werden in den sozialen Medien Fotos und Videos veröffentlicht. Der jüngste Wahlkampf-Auftritt der First Lady mit ihrer starken Rede für Frauen nährt sogar die Hoffnung, dass sie in vier Jahren als Präsidentin ins Weiße Haus zurückkehrt. Nur: Acht lange Jahre hatte dieses medial eindrucksvolle, stets perfekt inszenierte Power-Couple Zeit, Amerika zum Besseren zu verändern. Stattdessen  hinterlassen sie ein gesellschaftlich tief  gespaltenes, hasserfülltes und moralisch erschüttertes Land, in dem sich Millionen Menschen um ihre Zukunft betrogen fühlen.  Hätten beide ihre Chance und Begabungen nicht viel besser nützen müssen? 

 

Oktober 2016

Es läuft nicht gut für Angela Merkel. Die Union verzeichnet herbe Verluste bei den Landtagswahlen. Mehrheitlich wird ihrer Flüchtlungspolitik dafür die Schuld gegeben. Die quälende Debatte darüber, ob sie im nächsten Jahr zur Bundestagswahl noch einmal antritt oder nicht, ist voll entbrand. Um starken Nachwuchs in der Partei hat sie nicht nie gekümmert. Wäre es nicht besser, es gäbe auch in Deutschland eine Begrenzung der Amtszeit auf zwei oder - meinethalben - drei Legislaturperioden? 

 

12. März 2016

 

Das Thema der sozialen Ungleichheit hat wieder Konjunktur. Dem Spiegel ist es einen Titel wert. 2008 habe ich darüber ein Buch geschrieben. Weder an den Umständen noch an der Argumentation hat sich seither irgendetwas verändert. Sozialer Aufstieg scheint nach wie vor nahezu unmöglich, wenn man in bestimmte sozialen Milieus hineingeboren wird, in bestimmten Viertel aufwächst und bestimmte Schulen besucht. Mit mehr Umverteilung kommt man dem Problem nicht bei. Wie aber dann? Könnte es sein, man sich in postindustriellen, multi-ethnischen Gesellschaften mit dem Zustand wird abfinden müssen? 

 

26. November 2015

Meine Frage des Tages: This is a man's world. 

In Russland herrscht Putin und rüstet auf. In der Türkei regiert Erdogan und würde sich am liebsten zum allmächtigen Präsidenten machen. In Syrien hält sich Assad, in Isreal schlägt Netanjahu feindliche Töne an, in Ungarn schließt Orbán die Grenzen und will Muslime nicht haben, in Frankreich redet Hollande vom Krieg, in Bayern benimmt sich Seehofer vollkommen daneben. Wie soll es mit diesen Männern Lösungen geben? Angela Merkel nimmt hier nicht nur wegen ihrer Haltung in der Flüchtlingsfrage eine Sonderstellung ein, sondern auch als Frau. Hängt das eine mit dem anderen zusammen? Ich war nie ein ausgemachter Merkel-Fan, doch inzwischen halte ich die Frage für legitim, ob wir uns nicht glücklich schätzen können, dass Deutschland in diesen Zeiten von einer Frau regiert wird. 

 

20. September 2015  

Deutschland hilft - das ist die Botschaft, die uns medial derzeit alle überrollt.  Aber stimmt das Bild, an dem sich die Öffentlichkeit berauscht? Blicken nicht viel mehr Menschen sorgenvoll auf die Entwicklung und trauen sich doch nichts zu sagen, weil der soziale Druck einer bestimmten moralischen Erwartungshaltung viel zu stark geworden ist? 

 

 

11. Oktober

 

Angela Merkel ist angeschlagen. Das Interview, dass sie im Fernsehen gegeben hat, offenbart vor allem eines: Sie kann die über den Flüchtlingszustrom besorgte Bevölkerung nicht beruhigen. Es mehren sich Stimmen, die mutmaßen, die Kanzlerin könnte die Flüchtlingskrise nicht überstehen. Eine politische Krise in der Flüchtlingskrise ist schon beängstigend genug. Viel bedrückender aber ist die Frage: Wer soll es eigentlich sonst machen? 

 

1. Oktober

Berlin will Flüchtlinge in privatem Wohnraum unterbringen.  Die Eigentümer  erhalten 16 Euro  je Quadratmeter. Mieten in der Höhe - auf zehn Jahre garantiert - sind ein fantastisches Geschäft. Davon wollen jetzt viele Immobilienbesitzer profitieren.  Auch Banken stehen für die Finanzierung von Wohnungskäufen schon bereit, wenn darin Flüchtlinge untergebracht werden. Der nächste Boom wird kommen.  Kann das gut gehen, wenn der Staat auf diese Weise in den Markt eingreift? 

 

2. November

 

Am Berliner Bahnhof Zoo helfe ich Flüchtlingen, den Fahrkarten-Automaten zu bedienen. Sie wollen ein Ticket nach Nordrhein-Westfalen, um zu Verwandten in Bielefeld zu fahren,  sagen sie. Registriert seien sie noch nicht. Das dauert zu lange. Keine Behörde weiß derzeit, wer diese Menschen sind und wo sie sich künftig aufhalten oder bleiben werden. Sie sind kein Einzelfall. Kann das richtig sein, dass Zehntausende unregistrierter Flüchtlinge kommen und einfach wieder verschwinden, dass sie kreuz und quer durch Deutschland fahren auf der Suche nach einer Bleibe? 

 

 

26. September 2015

Volkswagen in der Existenzkrise, Vorstandschef Winterkorn, der den Konzern zum weltgrößten Autobauer gemacht hat,  ist zurückgetreten - mit 68 Jahren. Wenn er von der Manipulation der Abgastest sgewusst hat, zu Recht. Wenn nicht, dann auch. Haben Aufsichtsräte nicht die Tendenz, viel zu lange an erfolgreichen Managern festzuhalten?

 

7. Oktober

Europäische Unternehmen dürfen Daten ihrer Nutzer nicht mehr nach Amerika übermitteln.  So lautet das Urteil des Europäischen Gerichtshofs.  Denn in Amerika hat der Datenschutz keinen hohen Stellenwert. Es wird ewig dauern, bis ein entsprechendes Abkommen zum Datenschutz steht. Und Facebook, um die es eigentlich ging? Der Internet-Riese ist sich sicher: Es gibt viele Wege, Daten in die USA zu schaffen.  Wer will das alles überhaupt noch  kontrollieren? 

 

20. Oktober

Angeblich ging es bei der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 nach Deutschland nicht mit rechten Dingen zu. Im Zentrum steht der frühere Vorstandschef des Sportkonzerns Adidas. Schon länger wissen wir, dass VW im großen Umfang Abgaswerte manipuliert hat. Und die einstmals so solide Deutsche Bank kämpft mit ihrer jüngsten Vergangenheit, in der Kunden geprellt und Anleger betrogen wurden. Kann es sein, dass Deutschland wegen des Geschäftsgebarens seiner  Flagschiff-Unternehmen so langsam ein Imageproblem bekommt?  

 

6. November

 

Immer vorbildhaft erschienen die Schweden in der Flüchtlingsfrage. Kein anderes Land in Europa hat so viele Menschen aufgenommen. 190 000 Flüchtlinge werden erwartet. Schweden ist zwar ein großes Land. Zur Aufnahme von Flüchtlingen braucht man aber nicht nur Fläche, sondern vor allem Menschen. "Bleibt in Deutschland", fordert der schwedische Migrationsminister die Flüchtlinge unmissverständlich auf. Oder kehrt nach Dänemark zurück. Ist das die richtige Haltung, wenn Europa kaum eine andere Chance hat, als die Einwanderungswelle gemeinsam zu bewältigen?

 

3. Januar 2016

Das Neue Jahr beginnt mit neuen Begegnungen. Einer Zahnärztin zum Beispiel, die mir erzählt, sie beschäftige jetzt einen aus Syrien geflüchteten Studenten der Zahnmedizin. Sie wolle ihn fit machen, um sich in den Flüchtlingsheimen um die Prophylaxe der Kinder zu kümmern. Wenn er soweit ist, nimmt sie den nächsten auf.  Oder mit einem Fernsehredakteur, der einen syrischen Flüchtling Heilig Abend eingeladen hat, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Oder mit einem Perser aus Hannover, der seine Mutter besucht hat und mir am Flughafen in Teheran erzählt, wie er sich für Flüchtlinge engagiert. Er findet, dass der Flüchtlingsstrom den Deutschen gut tut. Ich frage mich, ob das überwältigende Engagement für Flüchtlinge hierzulande in Angela Merkels Neujahrsansprache nicht viel zu kurz 

 

März 2016

 

Es ist wieder so weit. Die ersten Staffeln von Germany's next Topmodel sind bereits gelaufen. Junge Mädchen, die von der Welt noch keine Ahnung haben, werden - wie so oft - zu entwürdigenden Aktionen gezwungen. So hatte sich das Heidi Klum auch diesmal wieder lustvoll ausgedacht. Die Mädchen sollten zum Beispiel ihre Kinderkörper in aufreizenden Dessous präsentieren und dabei auch noch ein glückliches Gesicht machen. Taten sie aber nicht wirklich. Sie sahen bemitleidenswert erbärmlich aus. Aus Erfahrung weiß ich: Diese Sendung ist in ihrer Zielgruppe ausgesprochen wirkungsmächtig und deshalb gefährlich. Ich frage mich: Wann hört diese Fernsehhexe endlich auf? 

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